Sonntagnachmittag, ich sitze in meinem vergitterten 8 qm Appartemento, vor mir ein leerer weißer Zettel. Was habe ich mir nur angetan? Welcher Teufel hat mich geritten? Warum nur habe ich mich zum Poetry-Slam angemeldet? Aus Langeweile? Ganz sicher nicht! Ich habe hier einen guten Job, habe ein paar Jungs auf der Abteilung mit denen ich gute Gespräche führen kann. Mal eine Partie Schach, ein Dart-Match, Musik oh ja, Musik wird viel bewusster, intensiver gehört. Tempus fugit! Die Zeit verfliegt. Ok, die Wochenenden sind für mich als nicht Fernseh-Junkie ganz schön lang und weilig. Was war es dann? Was trieb mich jetzt diesen weißen Zettel füllen zu wollen? Die Lust am schreiben? Oh ja, unbedingt. Ich liebe das Schreiben. Tagebuch wird seit 800 Tagen geführt. Das „alte“ Leben ist in Stichworten erfasst, chronologisch sortiert, die ersten Kapitel ausformuliert. Schreiben befreit, hilft bei der Tatund Vergangenheitsbewältigung. Briefe, unglaublich viele Briefe. Geschriebene, Erhaltene. Ein Tag ohne Post ist ein ungewöhnlicher Tag. Nicht selbstverständlich hier drin. Meine Dankbarkeit, durch Familie und Freunde nicht fallen gelassen, nicht vergessen und abgestempelt zu sein, ich darf durchs geschriebene Wort intensiv am „Draußen“ Leben teilnehmen. Jetzt fragt ihr euch, was schreibt ein Knacki nach draußen? Der Tagesablauf ist Routine, alles ist Routine, was passiert hier schon berichtenswertes? Anfangs schrieben mir einige Freunde, als wäre ich ein Kleinkind. Als hätte ich mit meiner Inhaftierung auch mein Gehirn abgeschaltet. Da spielte sicher viel Verunsicherung eine Rolle. „Verträgt“ er eine Karte aus dem Urlaub? Tut es ihm nicht weh? Na klar zwickt es, aber auch wenn ich hier noch einige Silvester verbringen werde, meine Gedanken und Träume können weder durchs Gitter am Fenster, noch durch die umgebenen Mauern auf ihrer Reise aufgehalten werden. Ich schreibe viel, sehr viel, ich schaffe fast zwei Kulis pro Woche. Und jetzt? NICHTS! Gar nichts! Dieser Zettel, weiß und unbeschrieben, er frustriert mich. Für mich war sofort klar, Poetry-Slam ist genau mein Ding. Drei Vorbereitungsnachmittage, ein toller Berater unterstützt uns, Anfang Dezember der Auftritt. Nach dem ersten Treffen sollte jeder einen Text verfassen. Na nichts leichter als das. Samstag Morgen, diesen unglaublich leeren weißen Zettel bereit gelegt, Kuli griffbereit, los geht‘s! Nun ja, wie gesagt, es ist inzwischen Sonntag Nachmittag und dieser weiße Zettel grinst mich noch immer jungfräulich an: Na los! Zeig es mir, fang an, schreib mich voll! Ja, sehr gerne, aber womit? Soll es etwas autobiographisches sein? Wen interessiert es, das mein junger, noch nicht ausgebildeter Jagdhund partout nicht ins Wasser ging? Mich damit fast zur Verzweiflung trieb? Dann ein Spaziergang am Kanal. Er sieht Mama Ente mit 8 Küken vergnügt im Wasser planschen. Mit einem Riesensatz und voller Begeisterung stürzt sich Hündchen in die Fluten. Meine Panik: „Oh Gott, die Küken!“ Alles rufen und pfeifen half nichts. Mama Ente quakte jämmerlich. Ein Flügel klatschte nur ganz lahm aufs Wasser. Sie signalisierte: Komm her, ich bin verletzt, leichte Beute! War der Hund ihr bis auf einen halben Meter nahe gekommen, schwamm sie schnell zehn Meter weiter, mimte wieder die Verletzte. Das wiederholte sich noch zwei bis drei Mal. Inzwischen haben sich alle Küken in den Unterschlupf am Ufer in Sicherheit gebracht. Als Mama Ente das sah, erhob sie sich mit einem triumphierenden Quak, Quak, Quak in die Lüfte, umkreiste den konsternierten Hund und lachte ihn höhnisch aus. Ziemlich frustriert kam mein Hund zu mir ans Ufer. Er wurde abgeliebelt ohne Ende, ich war so glücklich: alle Küken gerettet und Hündchen kann doch schwimmen. Nein, diese Geschichte will keiner hören! Da war ich wieder bei meinem Problem: dieser unglaublich leere weiße Zettel. Ja was wollt ihr, was wollen die Zuhörer beim Poetry-Slam im Knast hören? Was treibt sie in den Knast? Knackies anschauen? Dieser leichte Schauder: Du, ich war in der JVA, habe richtige Verbrecher gesehen! Nein! Das glaube ich nicht! Sie wollen hören, was haben die Jungs zu sagen, was haben sie uns mitzuteilen? Dieser weiße Zettel nervt! Also, shit-egal, warum die Leute hier sind, schreibe doch einfach auf, was dich bewegt, deine Gedanken, deine Träume. Aber, will ich das denen wirklich mitteilen? Was geht die das an? Es sind Fremde! Nicht Familie, nicht Freunde, die dich kennen und die du kennst! Diese Fremden, neugierigen, erwartungsfrohen Gesichter. Und was habe ich anzubieten? Einen mich höhnisch angrinsenden Zettel, weiß und leer! Sollen sie erfahren, das auch wir ach so „harte“ Jungs ab und zu das nicht vorhandene Kopfkissen mit Tränen füllen? Sollen sie erfahren, dass die Sehnsucht nach Freiheit und ein wenig Selbstbestimmung zeitweise übermächtig zu werden droht? Wollen das meine Zuhörer hören? Will mein weißer Zettel damit gefüllt werden? Traue ich mich, darüber vor Fremden zu reden? Was geht sie das an? Das will doch keiner wissen! Aber worüber schreibe ich? Reime ich? Versuche ich lustig zu sein? Ich habe keine Ahnung! Alles, was ich euch anbieten kann, ist ein leerer weißer Zettel.
© Heinrich-Böll-Stiftung e.V.
Schumannstraße 8
10117 Berlin
T +49 (30) 285 34-0
F +49 (30) 285 34-109
www.boell.de
info@boell.de