Schahina Gambir ist seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags für die Partei Bündnis 90/Die Grünen. In ihrer Arbeit als Abgeordnete beschäftigt sie sich vor allem mit Fragen von Antirassismus, Demokratie und Teilhabe. Warum es so wichtig ist anzuerkennen, dass Rassismus jeden Bereich unserer Gesellschaft betrifft und welche strukturellen Veränderungen es für mehr politische Teilhabe braucht, erklärt sie im Interview.
Ngoc Bich Tran: Liebe Schahina, du bist seit seit etwas mehr als einem Jahr Abgeordnete im Bundestag. Wie bist du zur Politik gekommen?
Schahina Gambir: Bevor ich Abgeordnete geworden bin, war ich beruflich zunächst anderweitig unterwegs: ich habe nach dem Abitur erstmal eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau gemacht, mich dann aber noch für ein Studium der Politik- und Wirtschaftswissenschaften entschieden. Nach dem Abschluss habe ich bei einem grünen Landtagsabgeordneten gearbeitet. Parallel war ich auch schon bei den Grünen in NRW aktiv und habe u.a. die Grüne Jugend in Bielefeld mit aufgebaut. Aber ich hätte damals natürlich nicht gedacht, dass ich im Jahr 2021 Abgeordnete werde. Das war nie der Plan.
Was hat dich dann bewogen, für den Bundestag zu kandidieren?
Das Schlüsselerlebnis war für mich dann der rassistische Anschlag in Hanau und die öffentlichen Reaktionen in den Tagen danach. Ich war irgendwie völlig neben der Spur und habe mir immer wieder vorgestellt, dass ich oder meine Freund*innen das hätten sein können. Für mich war das auch nochmal die Bestätigung für all den Rassismus, den ich erfahren habe und all die Diskriminierung, egal ob in der Schule, im Alltag oder in vielen anderen Lebensbereichen. Für mich war klar, dass das so nicht weitergehen kann und ich habe dann sehr genau drauf geachtet, wer wann was sagt und wer wie Stellung nimmt. Leider habe ich mich in wenigen dieser Aussagen wiedergefunden. Insbesondere im politischen Umfeld oder in den Medien haben nur wenige so richtig das ausgesprochen, was ich in dem Moment gefühlt habe. Die Angst, die ich hatte, die Wut, die Verzweiflung. Zeitgleich wurde Karneval gefeiert als sei nichts passiert. Ich dachte, das kann einfach nicht sein, dass das so weitergeht, dass es da kaum Stimmen im Bundestag gibt, die das aussprechen, was so viele Menschen, die eine ähnliche Biographie haben wie ich, schon immer gespürt haben: Deutschland hat ein Rassismusproblem.
Und dann habe ich entschieden zu kandidieren. Natürlich weiß man nie, ob es am Ende klappt. Deshalb war es mir wichtig, ein erstes Feedback einzuholen und das nicht Hals über Kopf zu machen. Ich habe dann einige Gespräche mit anderen Abgeordneten über meine Idee einer Kandidatur geführt. Von ihnen habe ich tatsächlich sehr viel Zuspruch und Unterstützung bekommen. Für mich war während der Kandidatur ganz klar, dass ich vor allem die Themen Diskriminierung, Rassismus und Teilhabe behandeln möchte. Für mich ist das ein großes Privileg, dass ich überhaupt im Bundestag sein und hier arbeiten darf. Und darüber hinaus zu all den Themen arbeiten kann, die mich persönlich berühren, die mich politisiert haben und die für mich so wichtig sind für den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Mit welchen Themen beschäftigst du dich gerade?
Ich sitze im Familienausschuss und im Innenausschuss und beschäftige mich da insbesondere mit den Themen Antidiskriminierung und Antirassismus. Gerade widme ich mich sehr stark dem Thema Diskriminierung und Rassismus im Gesundheitswesen, was ein absolutes Nischenthema ist, obwohl es so viele Leute betrifft und trotzdem bisher sehr wenig Beachtung gefunden hat. Ich bin auch Berichterstatterin für das Demokratiefördergesetz, welches Ende letzten Jahres im Kabinett beschlossen wurde. Das Gesetz kommt nun ins parlamentarische Verfahren und bleibt für mich weiterhin eine Priorität in den nächsten Monaten.
Ansonsten bin ich im Auswärtigen Ausschuss für die Ländergruppe Südasien zuständig. Seit diesem Sommer bin ich auch Obfrau für die Enquete-Kommission Afghanistan, die das 20-jährige deutsche Engagement in Afghanistan aufarbeitet. Ich bin selbst in Kabul in Afghanistan geboren, spreche Urdu und Hindi und habe als Teil meiner Biografie eine kulturelle Nähe zu diesem Land. Die Arbeit der Kommission ist nun im vollen Gange. Mit Hilfe von wissenschaftlicher Expertise, werden wir unser Engagement aufarbeiten und Lehren daraus ziehen.
Welche Herausforderungen begegnen dir bei der Bearbeitung oder Durchsetzung dieser Themen?
Beim Thema Antirassismus sind wir als Gesellschaft weiter, als wir es jemals waren, also was das Anerkennen von institutionellem und strukturellem Rassismus und von Diskriminierung angeht. Die Herausforderung ist, dass wir jetzt nicht nachlassen. Denn das, was wir sehen ist nur die Spitze des Eisbergs. Rassismus betrifft jeden Bereich in unserer Gesellschaft und das mache ich auch ganz bewusst immer wieder deutlich. Es kann sich keine Institution, keine Organisation, kein Verein, keine Partei rausnehmen und sagen: „Rassismus? Sowas gibt es bei uns nicht.“ Wir müssen uns bewusst werden, dass wir in einer Gesellschaft aufwachsen, die rassistisch ist, dass wir alle rassistische Denkmuster haben und dass wir jeden Tag die Aufgabe haben, die Schubladen in unserem Kopf zu erkennen und zu entstauben. Wir müssen uns immer wieder aufs Neue selbst hinterfragen, um diesen tief sitzenden Rassismus zu verlernen.
Auch wenn wir ein ganzes Stück weiter sind als vor einigen Jahren – angestoßen durch die Black Lives Matter Bewegung und als Reaktion auf die rassistischen und rechtsextremistischen Anschläge in Hanau, Halle und auf Walter Lübcke – sind wir noch weit entfernt von einer wirklich rassismuskritischen, chancengerechten Gesellschaft, die resilient ist gegen ausschließende Muster oder menschenverachtende Einstellungen. Mich haben die Razzien im sogenannten Reichsbürgermilieu neulich nicht überrascht, die Gefahr von rechter Gewalt und Verschwörungsideologien ist nicht neu. Trotzdem darf nicht unterschätzt werden, wie gefährlich es ist, dass Rassismus auch in der Mitte der Gesellschaft und in staatlichen Institutionen verankert ist. Eine der großen Herausforderungen besteht darin, diese Gefahr ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln.
Welche Bilanz ziehst du nach einem Jahr? Was hat sich in deinem Leben und deiner Arbeit verändert?
Bilanz kann ich noch gar nicht so richtig ziehen, weil ich gefühlt noch mittendrin bin. Seit der Bundestagswahl befinden wir uns permanent im Krisenmodus. Für uns neue Abgeordnete gab es insofern keine „Schonfrist“. Die Pandemie ist weiterhin ein Riesenthema und seit dem 24. Februar 2022 – seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine – ist alles nochmal komplett anders. Was die anhaltenden Krisen an zusätzlichen Herausforderungen bringen, wird sich vor allem jetzt in diesem Jahr genauer abzeichnen.
Trotzdem konnte ich in meinem ersten Jahr schon einige wichtige Vorhaben mit auf den Weg bringen. Das Demokratiefördergesetz, mit dem wir zivilgesellschaftliche Arbeit in dem Bereich stärken wollen, wurde kürzlich im Kabinett beschlossen. Zudem haben wir die wichtige Arbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gestärkt, auch weil wir mit Ferda Ataman eine Leitung gewinnen konnten, die das mit Herzblut macht, die eine große Strahlkraft hat und den Ausbau der flächendeckenden Beratungsstruktur im Antidiskriminierungsbereich voranbringt. Und mit der Einsetzung der Enquete-Kommission Afghanistan haben wir ein weiteres wichtiges Versprechen aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt.
Und wie ist für dich die persönliche Bilanz?
Es hat sich wahnsinnig viel für mich persönlich, eigentlich in allen Lebensbereichen geändert. Ich trage viel Verantwortung als Abgeordnete und auch erstmals als Arbeitgeberin, denn ich habe ja auch Mitarbeitende, um die ich mich kümmern muss. Neben all den Terminen und der Arbeit in Berlin und im Wahlkreis bleibt nicht mehr so viel Zeit für meine eigenen sozialen Kontakte, für meine Familie, für meine Freund*innen. Ich arbeite zwar sehr viele Stunden pro Woche, die weit über einen Vollzeitjob hinausgehen, trotzdem habe ich oft das Gefühl, ich könnte noch mehr tun. Die Themen die ich bearbeite, berühren mich auch emotional sehr. Es ist keine Arbeit, bei der man pünktlich das Büro verlässt, einfach die Tür hinter sich zumacht und erst am nächsten Tag die Sachen weiter bearbeitet. Für mich ist mittlerweile alles politisch und egal, wo ich bin, höre ich nicht auf, an meine Verantwortung und an die Arbeit zu denken und zu überlegen, was wir tun können, damit Dinge besser laufen.
Mit Blick auf die Struktur des Bundestags wissen wir, dass es faktisch sehr wenige Abgeordnete und Politiker*innen of Color gibt. Hast du das Gefühl, dass du deswegen auch eine Vorbildfunktion für marginalisierte Menschen erfüllst, die sich vornehmen auch irgendwann politisch aktiv zu werden?
Für viele Menschen mit Migrationsgeschichte gestaltet sich politische Teilhabe oft schwieriger. Ich möchte möglichst viele dieser Barrieren abbauen, damit politische Teilhabe einfacher wird und Menschen, die ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft sind, z.B. wählen gehen können. Ich möchte vor allem Politik für diese Menschen machen, habe mich selbst aber nie als Vorbild wahrgenommen. Seitdem ich im Bundestag bin, bekomme ich aber ganz oft Nachrichten, vor allem von jungen Frauen, die mir schreiben, dass sie das total cool finden, was ich mache und, dass sie das auch für ihren eigenen Bereich anspornt. Diese Vorbildfunktion hatte ich vorher gar nicht so richtig auf dem Schirm und ich freue mich über jede einzelne Nachricht. Wenn Menschen sagen, „Schahina hat es geschafft, also schaffe ich es auch“, dann finde ich das total schön. Und es zeigt einmal mehr, wie wichtig Teilhabe und Repräsentation sind. Es wird Zeit, dass die Vielfalt, in der wir als Gesellschaft zusammenleben, endlich auch politische Realität wird. Dafür müssen wir aber an den Rahmenbedingungen noch einiges verändern, zum Beispiel endlich ein Partizipationsgesetz auf den Weg bringen. Dafür setze ich mich ein.
Hast du eine Idee oder einen Ansatz, wie mehr marginalisierte Menschen dazu motiviert werden können, sich (partei-)politisch zu engagieren? Welche strukturellen Veränderungen braucht es dafür?
Ich finde es total wichtig, dass meine Partei ein Vielfaltsstatut beschlossen hat und damit klar den Weg ebnet, um offener und vielfältiger zu werden. Mich politisch zu äußern und zu positionieren hat mich am Anfang sehr viel Kraft gekostet. Dafür braucht es eine Partei, die Räume schafft, in denen sich Menschen, die beispielsweise Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, sicher fühlen. Es muss also einen Rahmen geben, der Menschen befähigt sich zu äußern und zu entfalten. Dafür müssen sich aber die Strukturen von Parteien ändern. Diese Verantwortung liegt bei den Parteien und nicht bei den Betroffenen von Rassismus, die sich politisch engagieren möchten. Als ich Kreisvorsitzende in Bielefeld war, habe ich durchgesetzt, dass die Fraktion und der Vorstand alle zwei Jahre einen Diversity-Workshop machen müssen. Das ist ein kleines Detail, das aber entscheidende Wirkung entfalten kann. Es kann nicht sein, dass Personen in solchen Positionen nicht rassismussensibel bzw. rassismuskritisch sind. Wiederkehrende Fortbildungen können da wirklich ein eye-opener für mehr Sensibilisierung sein. Aber natürlich sind sie nicht das Allheilmittel. Wir brauchen insgesamt strukturelle Veränderungen mit Blick auf Teilhabe. Und nicht nur in Parteien, sondern auch in der Arbeitswelt oder in Vereinen. Es ist wirklich eine breite gesellschaftliche Aufgabe.
Neben den strukturellen Barrieren kann auch die Angst vor Anfeindungen eine Rolle spielen, die ja leider immer häufiger mit einem politischen Amt einhergehen. Erlebst du so etwas in deiner politischen Arbeit?
Seit meiner frühesten Kindheit mache ich Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen und kämpfe gegen negative Vorurteile. Erst vor kurzem bin ich auf dem Weg zum Büro rassistisch beschimpft und mit einem Regenschirm angegangen worden. Ich war völlig perplex, obwohl das bei Weitem nicht das erste Mal war, dass mich jemand beleidigt. Aber solche Übergriffe treffen einen trotzdem wie aus dem Nichts, wenn man sich vermeintlich sicher fühlt oder gerade nicht damit rechnet. Ich war gerade mit meiner Mitarbeiterin zwischen verschiedenen Bundestagsgebäuden unterwegs und mitten im Gespräch über den nächsten Termin, da rechne ich nicht damit, dass mich jemand anschreit, beleidigt und bedroht.
Wie gehst du damit um?
Es kommt viel auf meine Tagesform an. Manchmal denke ich mir, Schwamm drüber, und manchmal geht mir das doch schon näher. Ich habe kein Patentrezept, wie ich damit immer umgehe. Denn ich bin kein Roboter und das möchte ich auch nicht sein. Ich versuche schon, das nicht so an mich ranzulassen und kann mich davon abgrenzen. Denn das Ziel solcher Übergriffe ist ja vor allem Angst zu schüren und Menschen auszugrenzen. Deswegen will ich dem gar nicht so viel Raum geben und Energie darauf verwenden. Vielmehr sehe ich das als Ansporn umso mehr für meine politischen und gesellschaftlichen Ziele zu kämpfen.
Vielen Dank!
Dieser Artikel erschien zuerst hier: heimatkunde.boell.de