Deutschlands politische Großprojekte nach dem Zweiten Weltkrieg – die Etablierung einer stabilen parlamentarischen Demokratie, die europäische Integration und die Wiedervereinigung – konnten nur auf der Basis eines allgemeinen politischen Willens gelingen, der von der Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde. Die Akzeptanz der Politik hatte viel damit zu tun, dass die Institutionen des Sozialstaats eine Balance zwischen dem Allgemeinwohl, den individuellen Bedürfnissen und den verschiedenen Interessen untereinander herstellten. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich Deutschland zu einer hochgradig individualisierten und differenzierten Gesellschaft entwickelt. Der öffentliche Raum, der für vielfältige Sonderinteressen von Unternehmen, Verbänden, Vereinen und Parteien vorhanden ist, gilt als Zeichen von lebendiger Bürgergesellschaft, Pluralität und Freiheit.
Aus dieser positiven Tatsache ergeben sich Gefahren für die Demokratie. Je erfolgreicher die Interessenvertreter für ihre Klientel Privilegien erzielen, desto schwächer wird deren Bezug auf die Gemeinschaft und die Bereitschaft, sich über die eigenen Belange hinaus zu engagieren. Gemeinschaftsstiftende Traditionen und Aufgaben befinden sich auf dem Rückzug. Im Selbstverständnis der Eliten ist ein mangelnder republikanischer Esprit zu beklagen, der sich zwar aus der historischen Erfahrung mit zwei Diktaturen erklärt, aber dazu führt, dass die Verantwortung für die politischen und gesellschaftlichen Institutionen vernachlässigt wird. Auf den Gebieten der Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik sind die Eigeninteressen mächtiger Gruppen, Individuen und Organisationen zu Lasten der Gemeinschaft und der sie tragenden Institutionen gestärkt worden. Eine Kultur der Verpflichtung aller Beteiligten im Sinne eines Gesellschaftsvertrags zur Stärkung der Institutionen, die das Leben der Deutschen auch im Zeitalter der Globalisierung und Europäisierung auf unabsehbar lange Zeit noch bestimmen werden, erscheint dringend geboten. Deutschland hat mit der Demokratie und mit der Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte sondergleichen erlebt. Nun ist zu erwarten, dass die Politik dort, wo sie sich in den vergangenen Jahren abgebaut hat, ihre Zuständigkeit wieder verstärkt zur Geltung bringt und sich dabei auf ihre Basis, auf die Bürger, besinnt.
4 Thesen: Mehr Zeit durch Beschleunigung?
I. These: Eine gemeinsam erlebte Gegenwart mit Anderen (wechselseitige Anerkennung und Aufmerksamkeit) ist konstitutiv für die Bildung selbstreflexiver Identität und für die seelische Gesundheit der Menschen.
II. These: Mit der Kultur der Moderne kristallisiert sich ein Bewusstsein von Zeit und Geschichte heraus, das in besonderer Weise auf Fortschritt und Beschleunigung (bei tendenzieller Abwertung von Tradition und Vergangenheit) ausgerichtet ist. Die auf Emanzipation und Selbstverwirklichung zielenden Orientierungen der Aufklärung fördern diese »Mentalität«, geraten aber in Spannung mit weiteren Ideen der Moderne, die nur durch lang andauernde Zeitinvestitionen zu realisieren sind, wie Bildung, Rechtsstaatlichkeit, repräsentative Demokratie und konsensuelle Gestaltung der Gesellschaft.
III. These: Im Industriekapitalismus wird die Modernisierung von Arbeitswelten und von privaten Haushalten als rigides Zeitmanagement der Beschleunigung durchgesetzt. Zwischen USA (Gesellschaft mit forcierter Beschleunigung) und Deutschland (Gesellschaft mit gebremster Beschleunigung) existieren jedoch erhebliche Unterschiede.
IV. These: Die Einschnitte im Gefüge der sozialen Sicherung in Deutschland und die Ökonomisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche, wie der Bildung, der Gesundheit und des Sozialen haben dazu geführt, dass der Zeitdruck auf die Mitarbeiter extrem gestiegen ist.