Die Krise des Finanzmarktes wirkt sich massiv auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und die persönliche Lebenssituation von Menschen aus. Insbesondere jene Menschen, welche die Finanzkrise am wenigsten verursacht haben, sind von ihr am meisten betroffen. Denn die Rettung des Finanzmarktes und seiner Akteure ließ die Staatsverschuldung der meisten Industrieländer sprunghaft ansteigen und immer größere Teile der staatlichen Steuereinnahmen müssen für den Schulden- und Zinsendienst aufgewendet werden. Das und die damit einhergehende Wirtschaftskrise schränken jedoch die Fähigkeit der öffentlichen Hand ein, Geldmittel für gesellschaftspolitisch dringend erforderliche Maßnahmen bereit zu stellen. Kaum ein gesellschaftlicher Bereich bleibt vor den berüchtigten Sparmaßnahmen verschont: In der Bildung, in der Entwicklungszusammenarbeit, im Gesundheitswesen, im sozialen Ausgleich oder im Umweltschutz – fast in allen gesellschaftspolitisch relevanten Bereichen wird der Rotstift angesetzt. Die Finanzkrise betrifft uns also alle.
Im Folgenden möchte ich einige der sich mit der Finanzkrise ergebenden gesellschaftlichen Gefahren und Herausforderungen kurz skizzieren und auf ein Phänomen hinweisen, welches sich derzeit bei vielen Menschen einstellt: Ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber den bestehenden Verhältnissen. Danach versuche ich aufzuzeigen, dass unsere Bilder und unsere Wahrnehmungen finanzwirtschaftlicher Aktivitäten stark von Annahmen und Vorstellungen geleitet sind, die sich bei genauerem Hinsehen so gar nicht bestätigen lassen. Ich nenne das die „Mythen“ des Finanzmarktes und möchte drei davon aufzeigen. Das Bewusstmachen dieser Mythen schließlich ist eine Voraussetzung für eine Mobilisierung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Kräfte mit dem Ziel der Überwindung des Ohnmachtgefühls und der Umsetzung politischer Maßnahmen zur Rückbindung finanzwirtschaftlicher Aktivitäten an das gesellschaftliche Gemeinwohl.
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Open external content on original site1. Gefahren und Herausforderungen der aktuellen Finanzkrise
Insgesamt hat eine Entwicklung, in der sich immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen und das soziale Netz immer grobmaschiger wird, das Potential, unmittelbar in eine Gesellschafts- und Zivilisationskrise zu kippen. Die Tatsache, dass die breite Masse der Menschen sowie künftige Generationen für die Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise aufkommen müssen – während die Gewinne ganz offenkundig privatisiert werden – empört die Menschen zu Recht. Nachdem Jahrzehnte lang die Überzeugung eines sich selbst regulierenden und letztlich („on the long run“) den allgemeinen Wohlstand fördernden Marktes für das gesellschafts- und wirtschaftspolitische Handeln leitend war, zeigt sich nun, dass gerade diese uneingeschränkte und unkritische „Marktgläubigkeit“ nicht zu mehr Wohlstand für alle, sondern zu einer immer größeren Kluft zwischen Arm und Reich geführt hat. Die verstärkt einsetzende Enttäuschung und Frustration sowohl bezüglich der Gestaltungskraft als auch des Gestaltungswillens der politisch Mächtigen führt schließlich zu weitreichender Politikverdrossenheit und zu einem Rückzug weiter Bevölkerungskreise aus dem politischen Leben und der demokratischen Mitbestimmung. Auf der einen Seite kann die Empörung über diese Missstände zivilgesellschaftliche und demokratiepolitische Kräfte mobilisieren und zu einem notwendigen Wandel in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft beitragen. Auf der anderen Seite bergen diese Entwicklungen aber auch die Gefahr, dass sie zu einem Bruch des sozialen Friedens und zu einer Radikalisierung der politischen Verhältnisse führen können.
Eine kritische Reflexion der Verhältnisse am Finanzmarkt und in der Finanzwirtschaft ist demnach dringend erforderlich. Dabei fällt auf, dass man sich über die zentralen Ursachen der Finanzkrise – insbesondere über die Problematik der Entkoppelung des Finanzmarktes von der Realwirtschaft – bereits weitgehend einig ist. Auch in den Wirtschaftswissenschaften verfestigt sich mittlerweile die Erkenntnis, dass die Konzentration auf einen Mainstream-Diskurs innerhalb der Ökonomik unter weitgehender Ausblendung kritischer Sichtweisen und alternativer Denkansätze zur aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise beigetragen hat.[1] Obwohl also in immer größeren Teilen der Gesellschaft der Wunsch nach einer Reform des Finanzmarktes laut wird, entsteht der Eindruck, dass mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Ausbruch der Finanzkrise die Bereitschaft und Entschlossenheit der politisch Verantwortlichen für tiefgreifende Reformmaßnahmen abnimmt.
Konkreten Vorschläge für eine Reform des Finanzmarktes wurden ausgearbeitet, aber nicht umgesetzt – obwohl sie sich breiter Zustimmung erfreuen. Ein Beispiel hierfür ist ein im Auftrag der Generalversammlung der Vereinten Nationen erstellter Expertenbericht zu Reform des Finanzsystems.[2] Die darin enthaltenen wichtigsten Vorschläge betreffen die Einrichtung eines Gremiums zur Koordinierung und Überwachung der globalen Ökonomie und Finanzwirtschaft, die Etablierung einer neuen Weltreservewährung sowie die Gründung einer Kommission für das Management der vor allem in den Entwicklungsländern bestehenden massiven Verschuldung und ein damit in Zusammenhang stehendes internationales Insolvenzrecht für Staaten. Während die Entwicklungs- und Schwellenländern und vermutlich auch eine große Anzahl von Menschen in den Industrieländern die Empfehlungen der UN-Expertengruppe befürworten, werden diese von den politischen Vertretern und der wirtschaftlichen Elite der führenden Industriestaaten schlichtweg ignoriert. Auch zahlreiche weiterer Vorschläge zur Reform des Finanzmarktes – die Schaffung globaler Transparenz- und Regulierungsstandards, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer oder eine Zulassungspflicht für Finanzprodukte – finden zwar immer mehr Zustimmung, werden aber bis dato nicht umgesetzt.
Aus sozial- und wirtschaftsethischer Sicht ist dieser Befund alarmierend: Es zeigt sich nämlich eine demokratiepolitisch fatale Entwicklung, in welcher Partikular- und Gruppeninteressen den Vorrang gegenüber Gemeinwohlinteressen haben. Je mehr man sich mit den Ursachen dieses Phänomens befasst, desto klarer tritt zu Tage, dass eine relativ kleine Gruppe von Akteuren ihre Interessen zulasten eines Großteils der Gesellschaft durchzusetzen in der Lage ist. Obwohl in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zunehmend erkannt wird, dass zur Verhinderung künftiger Krisen eine Reform des Finanzmarktes und eine Rückbindung finanzwirtschaftlicher Aktivitäten an realwirtschaftliche Erfordernisse unabdingbar sind, hat sich an den bestehenden Verhältnissen bis jetzt kaum etwas verändert. Das Paradoxe an dieser Situation ist kaum zu überbieten: Man erkennt ein Problem, sieht den Handlungsbedarf, hat entsprechende Handlungsmöglichkeiten – und handelt nicht. Kein Wunder, dass sich angesichts dieser Situation bei immer mehr Menschen ein Gefühl der Resignation, der Verzweiflung und der Ohnmacht einstellt.
Vor diesem Hintergrund stimmen vor allem zwei Dinge nachdenklich: Erstens ist der Einfluss der Finanzwirtschaft auf die Politik unübersehbar. Nicht nur in den USA, auch hierzulande hat das Naheverhältnis zwischen Politik und Finanzwirtschaft ein Besorgnis erregendes Ausmaß angenommen.[3] Die strukturellen Verflechtungen und persönlichen Naheverhältnisse zwischen politischen und wirtschaftlichen Institutionen und Akteuren erweisen sich in Hinblick auf demokratische Prinzipien als problematisch, indem sie die Durchsetzung von Partikular- und Gruppeninteressen fördern und eine gemeinwohlorientierte Politik aushebeln. Zweitens kann man feststellen, dass – trotz der Erfahrungen in der Finanzkrise – die Vorteile eines freien und weitgehend unregulierten Finanzmarktes nach wie vor mit einer Reihe von Argumenten gestützt werden, die insgesamt darauf abzielen, dass das, was am Finanzmarkt passiert, letztlich eine Gemeinwohl fördernde Wirkung entfaltet und eigentlich doch noch die beste aller Möglichkeiten darstellt. Mehr noch: Der Finanzmarkt – so wird argumentiert – ist eine, wenn nicht die zentrale Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftlichen Wohlstand schlechthin.[4] Den Finanzmarkt zu sehr einzuschränken oder zu regulieren würde sogar verhindern, die Wirtschaftskrise schnell zu bewältigen. Doch auf welche Argumente stützen sich derartige Behauptungen? Halten sie einer kritischen Überprüfung stand oder entpuppen sie sich vielleicht gar als Mythen des Finanzmarktes?
2. Mythen des Finanzmarktes
Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs Mythos als einer im Kern wahren, beim Hörer Sinn stiftende Erzählung geht es hier um die umgangssprachliche Bedeutung von Mythos als eine Märe, Sage beziehungsweise unbeglaubigte, märchenhaft-vage, fabulöse oder legendäre Erzählung.[5] Gemeint ist damit die Rede von einem Mythos, bei dem gängige und im Grunde plausibel lautende Argumente und Schlussfolgerungen dazu verwendet werden, eine unterstellte, aber im Kern fragliche, ungesicherte, nicht belegbare oder gar unrichtige These zu stützen. Die dabei verwendeten Argumente und Schlussfolgerungen, welche sich um diese Behauptung ranken, sollen – und das ist das Wesentliche an dieser Form des Mythos – nicht etwa die Richtigkeit der These beweisen, sondern lediglich deren Plausibilität und Glaubwürdigkeit suggerieren. Insbesondere bei komplexen und wenig transparenten Vorgänge und Strukturen – wie es zum Beispiel am Finanzmarkt der Fall ist – können dabei Mythen entwickelt werden, die zur Rechtfertigung eines bestimmten Systems oder zur Begründung bestimmter Handlungen herangezogen werden. Während also der wissenschaftlich verwendete Begriff des Mythos von einer (zumindest teilweise) wahren oder richtigen Kernthese ausgeht und einen darin aufgehobenen Sinngehalt über einen fiktiven Erzählstrang entfaltet, befindet sich im Kern des hier gemeinten Mythos eine bloß unterstellte und nicht gesicherte Behauptung, die anhand bestimmter Assoziationen, Bilder und Eindrücke plausibel und glaubwürdig gemacht werden soll.
Solcherart entstandene Mythen sind in ihrer Wirkmächtigkeit nicht zu unterschätzen. Sie beeinflussen nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den gesellschaftspolitischen Diskurs und bestimmen damit unser aller Gegenwart und Zukunft. Sie sind bestimmend für die Welt, in der wir leben. Mit der Finanzkrise, in welcher sich bis dahin als weitgehend gesichert geltende Annahmen über Nacht auflösten, sind aber einige dieser Mythen brüchig geworden.[6] Anders als noch vor wenigen Jahren fallen kritische Analysen, Kommentare und Reflexionen über finanzwirtschaftliche Abläufe und Prozesse nun nicht gleich unter den Generalverdacht des Sektierertums oder der Weltverschwörungstheorie. Die zentrale Rechtfertigung für die eben so und nicht anders verfasste Ordnung des Finanzmarktes, dass „es“ schließlich funktioniert und die in der Finanzwirtschaft generierten Gewinne letztlich zu einer Mehrung des allgemeinen Wohlstands führen, ist angesichts der aktuellen Entwicklungen am Finanzmarkt nicht mehr aufrecht zu erhalten.[7] Ich möchte im Folgenden drei solcher Mythen beschreiben und versuchen aufzuzeigen, dass bestimmte, oft verwendete und allgemein anerkannte Grundannahmen über die Funktion und Wirkung des Finanzmarktes bzw. der Finanzwirtschaft letztlich auf wackeligen Beinen stehen.
2.1. Mythos 1: »Wir brauchen Aktienbörsen, weil sie die Wirtschaft mit dem erforderlichen Kapital versorgen.«
Dieser gängigen Argumentation liegt ein Erklärungsmodell zugrunde, bei dem auf der einen Seite die Sparer mit ihren überschüssigen Finanzmitteln und auf der anderen Seite die Kapital suchenden Unternehmen stehen. An den Kapitalmärkten erfolgt die Vermittlung zwischen Kapitalgeber und Kapitalnehmer: Unternehmen können dort entweder Fremdkapital in Form von Krediten oder Eigenkapital in Form von Aktien aufnehmen. Dabei wird argumentiert, dass Aktien als nicht zurückzuzahlendes Eigenkapital gegenüber Krediten als mit Zinsen zurückzuzahlendes Fremdkapital für die Unternehmen Kosten reduziert. Diese Sichtweise übersieht jedoch, dass zwischen Unternehmen und Investoren die Finanzmittel in beide Richtungen fließen, also nicht nur als Emissionskapital an die Unternehmen, sondern auch in Form von Dividenden und in zunehmendem Maße in Form von Aktienrückkäufen an die Investoren.[8] Vor allem große Unternehmen bedienen sich immer seltener der Aktienbörse als Kapitaltankstelle. Stattdessen bevorzugen sie das Fremdkapital der Anleihemärkten oder Kredite von den Banken, während Eigenkapital zunehmend aus dem eigenen Gewinn generiert wird. An den internationalen Börsen ist zu beobachten, dass der Handel mit Aktien in den Jahren von 1980 bis 2005 zwar stark um den Faktor 170 gestiegen ist, der Aktienbestand im selben Zeitraum jedoch lediglich um das 15-fache zugelegt hat. Dies deutet darauf hin, „dass Aktien zunehmend nicht nur der Investitionsfinanzierung und der langfristigen privaten Vermögensanlage dienen, sondern vielmehr auch zur Finanzspekulation genutzt werden“.[9] Vom Handel mit Aktien profitieren aber weniger die Investoren und schon gar nicht die Unternehmen selbst, sondern in erster Linie die Händler von Aktien. Die Finanzwirtschaft erfüllt eine Reihe von realwirtschaftlich wichtigen Funktionen – zum Beispiel das Bereitstellen einer Finanzinfrastruktur oder den Kapital- und Risikotransfer. Aber die These, dass eine ausgeprägte Aktienkultur und der Handel mit Aktien für die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen unerlässlich sind, ist so nicht mehr haltbar und entpuppt sich vielmehr als Mythos, der den eigentlichen Sinn des Aktienhandels – nämlich die Generierung von Handelserträgen – verschleiert.
2.2. Mythos 2: »Auch ‚kleine‘ Investorinnen und Investoren können an den Gewinnmöglichkeiten des Finanzmarktes partizipieren.«
Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren eine beachtliche Vielfalt von Finanzprodukten eingestellt. Diese Produktinnovationen haben auf jeden Fall dazu beigetragen, unseren privaten und beruflichen Alltag angenehmer und sicherer zu gestalten und die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, etwa durch den elektronischen und bargeldlosen Zahlungsverkehr. Gleichzeitig wird aber durch die Vielzahl und zunehmende Komplexität der verschiedenen Bankprodukte ein umfassender Überblick über die Vor- und Nachteile einzelner Produkte immer schwieriger und es mehren sich die Hinweise, dass nicht alle Produktinnovationen tatsächlich zum Vorteil der Kunden sind. Der Verein für Konsumenteninformation deckte etwa auf, dass einige Banken Anlageprodukte verkaufen, die für Kunden intransparent und gröblich benachteiligend sind.[10]Vor allem im Investmentbereich werden laufend neue Produkte entwickelt und diese Innovationsfreudigkeit hat natürlich einen Grund: das klassische Bankgeschäft – also die Hereinnahme von Spareinlagen auf der einen und die Vergabe von Krediten auf der anderen Seite –, das sogenannte Zinsgeschäft also, trägt immer weniger zum Geschäftserfolg einer Bank bei. Stattdessen spielt der sogenannte Provisionsertrag eine immer bedeutendere Rolle in den Bilanzen der Banken. Provisionen fallen für Dienstleistungen sowie für den Verkauf und die Verwaltung von Produkten an. Entgegen dem Zinsertrag, der in der Regel erst über längere Zeiträume als Ertrag wirksam wird, werden Provisionen meist bei Geschäftsabschluss oder Erbringung einer Leistung fällig. Für einen Investmentfonds können da bei Verkauf schon mal 5 % Ausgabeaufschlag anfallen, dazu kommen noch 2 % Verwaltungsgebühr und 20 % performanceabhängiges Erfolgshonorar auf jährlicher Basis. Es ist kein Geheimnis mehr, dass in der Finanzdienstleistungsbranche die Beratung von Kunden zunehmend in den Hintergrund und der Verkauf von Produkten in den Vordergrund rückt: Berater werden somit zu Verkäufern mit unmissverständlichen Zielvorgaben und klaren Anreiz- bzw. Sanktionsmechanismen in Hinblick auf die Erreichung dieser Ziele.[11] Darüber hinaus gilt: Je komplexer und riskanter Finanzprodukte sind, umso mehr werden in der Regel Verkaufsabschlüsse auch durch höhere Provisionen belohnt. Damit werden aber Anreize geschaffen, Risiken geringer darzustellen als sie eigentlich sind bzw. gar zu verschweigen. So verdichtet sich aber der Verdacht, dass die Entwicklung immer neuer Produkte nicht der Befriedigung konkreter Kundenbedürfnisse dient, sondern der Generierung von Provisionserträgen durch den Verkauf dieser Produkte unter Inkaufnahme beträchtlicher Risken für die Kunden. Paul Volcker, US-amerikanischer Ökonom und Berater von US-Präsidenten Barack Obama, hat kürzlich sogar gemeint, dass die Finanzinnovationen des letzten Vierteljahrhunderts keinen sozialen und ökonomischen Gewinn gebracht haben – mit einer Ausnahme: dem Geldautomaten.[12] Freilich geht es nicht darum, die Finanzwirtschaft und ihre Produkte in Bausch und Bogen zu verurteilen: Finanzprodukte und Bankdienstleistungen tragen dazu bei, geld- und finanzwirtschaftliche Abläufe, Bedürfnisse und Erfordernisse zu vereinfachen und zu optimieren. Dass aber die Entwicklung und der Verkauf von Finanzprodukten vornehmlich im Interesse der Kunden erfolgt, ist ein Mythos.
2.3. Mythos 3: »In der Finanzwirtschaft werden Gewinne erwirtschaftet, die letztlich der Allgemeinheit zugute kommen.«
Zweifelsohne hat die Finanzwirtschaft insbesondere in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg zur wirtschaftlichen Entwicklung und damit zur Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstands beigetragen. Vor allem unter dem Eindruck der aktuellen Finanzkrise wird der gesellschaftliche Nutzen der Finanzwirtschaft aber zunehmend hinterfragt.[13] Die Kritik verläuft im Wesentlichen auf zwei Ebenen. Einerseits geht es um die Rolle der Finanzwirtschaft in der Finanzkrise: während die Kosten der Finanzkrise auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, gibt es dessen ungeachtet Dividenden für die Aktionäre und Bonifikationen für das Management. Hinzu kommt, dass die tatsächlich gezahlten Ertragssteuern der Banken mit durchschnittlich 7,4 % (bei einem Körperschaftssteuersatz von 25 %) auffallend niedrig ausfallen und somit der Vorwurf laut wird, dass die Finanzwirtschaft zwar von rechts- und sozialstaatlichen Verhältnissen profitiert, aber nur unproportional zu deren Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung beiträgt.[14] Andererseits geht es auch um die Rolle der Banken bei der Finanzierung sozial und ökologisch bedenklicher Projekte. Zahlreiche Großprojekte mit verheerenden sozialen und ökologischen Folgen sind nur möglich, weil Banken die dafür erforderliche Finanzierung bereitstellen.[15] Insgesamt stellt sich damit zunehmend die Frage, wie der gesellschaftliche Beitrag der Finanzwirtschaft generell zu bewerten ist.[16]
Die Auswirkungen der Aktivitäten der Finanzindustrie auf das Gemeinwohl bedürfen demnach einer differenzierteren Beurteilung. Denn das Ausweisen von hohen Bilanzgewinnen alleine stellt noch keinen Beitrag zum Gemeinwohl dar – es kommt vor allem darauf an, wie der Gewinn erwirtschaftet und verteilt wird bzw. ob die in Bankbilanzen ausgewiesenen Gewinne tatsächlich Substanzzuwächse darstellen oder lediglich Ergebnis einer kreativen Interpretation von Bewertungsspielräumen sind. Die Behauptung, dass die Aktivitäten der Finanzwirtschaft insgesamt zu mehr gesellschaftlichem Wohlstand beitragen, steht demnach zumindest unter dringendem Mythosverdacht.
3. Mythen entzaubern, Ohnmacht überwinden: unsere Zukunft ist gestaltbar
Die „Entmythologisierung“ des Finanzmarktes erweist sich damit als eine zentrale Aufgabe insbesondere für die Sozial- und Wirtschaftsethik. Denn letztlich sind es diese Mythen, auf die sich die Gegner einer Reform des Finanzmarktes berufen und welche für das gesellschaftliche und politische Meinungsbild – und damit für die Gestaltung der Regeln in unserer globalen Gesellschaft – maßgeblich sind. Argumente wie die eben beschriebenen werden dazu verwendet, um den Status quo und damit ein Verharren in den derzeitigen Strukturen des Finanzmarktes zu rechtfertigen. Das Aufdecken dieser Argumente als Mythen kann zu einer Versachlichung der Diskussion und zur Überwindung jenes Ohnmachtgefühls beitragen, welches sich einstellt, wenn die notwendigen Maßnahmen zwar erkannt, aber nicht umgesetzt werden. Vor allem kann mehr Klarheit bezüglich des Geschehens am Finanzmarkt auch dazu beitragen, die wünschenswerte Diskussion über unterschiedliche Lösungsvorschläge zur Bewältigung zentraler globaler Herausforderungen einerseits von Partikular- und Gruppeninteressen geleiteter Lobbyarbeit andererseits zu unterscheiden.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist somit keine rein ökonomische Herausforderung, sondern vielmehr eine grundlegende Anfrage an den Zustand und die Zukunftsfähigkeit unserer Zivilisation. Es geht also um mehr als eine Neuordnung des Finanzmarktes: es geht um die kritische Auseinandersetzung mit den Leitbildern und Motiven gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse und die Überwindung eines Ohnmachtzustandes gegenüber den bestehenden Verhältnissen. So wie die aktuelle Ordnung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft nicht einem Naturgesetz folgt oder vom Himmel gefallen ist, sondern vielmehr das Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses ist, sind auch die bestehenden Verhältnisse veränderbar und unsere Zukunft gestaltbar. Will man aber die Gestaltung unserer Zukunft nicht einigen Interessensgruppen überlassen, sondern in demokratischer Weise entwickeln, braucht es die Mobilisierung einer kritischen und aufgeklärten Zivilgesellschaft.