Heinrich IV: Laudatio bei der Verleihung

 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Beisenherz, lieber Kollege Ewald Roth, lieber Herr Strahl, aber vor allem: Lieber Murat Vural und liebe Gäste! Ich freue mich, heute hier zu sein, und noch mehr freue ich mich, aus einem freudigen Anlass hier zu sein, nämlich um mit Ihnen zusammen Murat Vural zu beglückwünschen und ihm zu seinem „Heinrich“ zu gratulieren.
Ich hatte die Gelegenheit, den „Heinrich“ schon einmal aus der Nähe zu betrachten. Ich hoffe, dass Murat ein großes Büro hat, in dem er den „Heinrich“ unterbringen kann. Das Gute am „Heinrich“ ist jedenfalls, dass er ein praktisches Geschenk ist. Man bekommt ja im Leben die ein oder andere Ehrung, und wir wissen ja, dass Murat schon einige Ehrungen –zu Recht – einsammeln durfte. Aber ich bin mir über eines sicher: Das ist die originellste, die er bisher bekommen hat! Ich bin mir auch sicher, dass er noch so manche Ehrung erhalten wird, aber es wird bestimmt eine ganze Weile dauern, bis er nochmal etwas Vergleichbares bekommt.

Der Bürgermeister hat bereits darauf hingewiesen: Wir haben leider gerade eine Debatte hinter uns gebracht, die uns nicht weitergebracht hat. Die Debatte um die schreckliche Brandkatastrophe von Ludwigshafen, um den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten und seine Rede in Köln, aber auch davor um den Wahlkampf in Hessen. Alles, was dabei an Porzellan kaputt gemacht worden ist – und das meine ich nicht nur in eine Richtung, sondern in alle Richtungen, die sich an dieser Debatte beteiligt haben, hat vor allem denjenigen, die sich vor Ort um Integration kümmern und die sich im Alltag meist ehrenamtlich dafür einsetzen, dass alle Menschen, gleich welcher Herkunft, gleiche Chancen in der Gesellschaft haben, die Arbeit nicht leichter gemacht. Im Gegenteil: Die hat man zum Teil um Jahre zurückgeworfen. Trotzdem kann ich nur dazu ermutigen, dass man sich dadurch nicht von seinem Engagement abhalten lässt!

Über eines müssen wir uns aber verständigen, und das halte ich für sehr wichtig: Weder die türkische, noch die deutsche Regierung, noch die Landesregierung, noch sonst irgendjemand hat darüber zu bestimmen, wie sich Familien entscheiden. Wie sie sich anziehen, ob sie zu Hause die Schuhe anbehalten oder ob sie sie ausziehen, ob ihre Kinder getauft werden oder nicht, ob ihre Kinder muslimisch, christlich oder jüdisch aufwachsen, ob sie atheistisch auf-wachsen, ob sie wie auch immer aufwachsen. Alles das haben nur die Familien selber zu entscheiden!

Das Einzige, was Herrn Erdogan und Frau Merkel anzugehen hat, ist, dass alle, die in unserer Gesellschaft aufwachsen, die gleichen Chancen verdient haben; dass alle, die bei uns  Aufwachsen, auf die bestmöglichen Schulen gehen sollten; und natürlich, dass alle, die in unse-rer Gesellschaft aufwachsen, Deutsch können sollten. Nicht aus Deutschtümelei, sondern damit sie eine Chance haben, in der Gesellschaft zu partizipieren, aber auch, um ihre Rechte in Anspruch zu nehmen. Denn wer nicht Deutsch kann, der wird Schwierigkeiten haben in der Mieterberatung, mit den Gewerkschaften oder dem Betriebsrat, mit vielen anderen Dingen, die man braucht, um seine Rechte in Anspruch zu nehmen. Insofern ist es
wichtig.

Das ist also ein weiterer Grund, warum Murat Vural und natürlich auch allen, die hinter und neben ihm stehen, die ihn in seiner Arbeit begleiten –an vorderster Stelle seiner Frau- Dank gebührt. Aber man darf, ich habe es in der Vorbereitung gelesen, auch seine Schwester nicht vergessen. Denn wenn seine Schwester nicht gewesen wäre, dann wäre er vielleicht gar nicht auf diese Idee gekommen, war sie doch diejenige, die ihm gesagt hat: „Wir müssen etwas machen!“ Und er war klug genug, auf seine Schwester zu hören. Ich wünschte, mehr Brüder wären klug genug, auf ihre Schwestern zu hören. Vor allem dann, wenn sie solche tollen Vorschläge machen! Auch dann, da bin ich mir ganz sicher, würde manches anders aussehen, nicht nur in der Integrationspolitik, sondern wahrscheinlich auch bei vielen globalen Problemen, die wir zurzeit auf unserem Planeten haben.

Ich finde, über die Fragen, die das private Leben angehen, sollte sich die Politik wenig Ge-danken machen. Worüber wir uns verständigen müssen, wenn wir mit der Integration er-folgreich sein wollen, das ist, dass sich alle, die bei uns leben, an die Verfassung halten müs-sen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Dass alle, die hier leben, sich an die Gesetze halten müssen, auch das ist eine Selbstverständlichkeit. Und, ich habe es vorher bereits gesagt, dass sich alle darum bemühen müssen, die Amtssprache einigermaßen zu beherrschen. Wenn sie dann zusätzlich andere Sprachen sprechen, wo, bitteschön, ist da das Problem, wo, bitteschön, ist da die schlechte Nachricht? Es ist doch eine erfreuliche Nachricht, wenn jemand zwei, drei, gar vier oder noch mehr Sprachen spricht. Wir sollten froh sein, wenn es uns ge-lingt, aus Deutsch-Türken, aus Deutsch- Griechen, aus Deutsch-Iranern, aus Deutsch-was-weiss-ich-was, Menschen zu machen, die ihre Muttersprache genau so gut beherrschen wie ihre Amtssprache.

Wenn ich mit meiner kleinen Tochter beim Kinderarzt im Wartezimmer sitze, dann mache ich oft eher die Erfahrung, das wir es leider in der zweiten, dritten Generation mit Jugendlichen zu tun haben, die einen Satz in der deutschen Sprache beginnen und ihn in der türkischen Sprache beenden oder umgekehrt. Das heißt, sie können weder richtig Deutsch, noch richtig Türkisch. Das ist doch die Realität! Die Realität ist doch nicht, dass wir Menschen ha-ben, die perfekt Türkisch können und sich weigern Deutsch zu reden. Die Realität ist leider so, wie ich es eben gesagt habe: Dass wir es mit Leuten zu tun haben, die beide Sprachen nicht richtig, nicht gut genug können, und darum ist es so wichtig, dass wir uns darum kümmern, dass die Sprachkenntnisse verbessert werden.

Dazu gehört auch, dass wir uns natürlich mit dem Thema beschäftigen müssen, dass Men-schen sich zurückziehen. Man redet dann immer von Parallelgesellschaften, aber man muss auch dazusagen, dass sich dies nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund bezieht, die unter ihresgleichen leben wollen. Um Parallelgesellschaften handelt es sich bitteschön auch, wenn es in Teilen der Bundesrepublik Deutschland – ich denke da Insbesondere an den Osten unseres Landes - sogenannte „ausländerfreie Zonen“ gibt. Auch das ist eine Parallelge-sellschaft, und auch diese muss man ansprechen, wenn man sich gegen Parallelgesellschaften in der Öffentlichkeit oder überhaupt in der Gesellschaft wendet.

Wer möchte, dass das Zusammenleben erfolgreich ist, der muss Gelegenheiten für die Begegnung schaffen: Am Arbeitsplatz, in der Schule oder sonstwo in der Gesellschaft. Wenn allerdings die Arbeitslosigkeit unter Migranten besonders hoch ist, dann bestehen diese Gelegenheiten, am Arbeitsplatz andere kennenzulernen, nicht mehr. Wenn Kinder aus Migrantenfamilien auf Hauptschulen gehen, dann haben sie nicht die Gelegenheit, mit anderen zu-sammenzukommen, die gut Deutsch können oder die aus einer anderen sozialen Schicht kommen.

Eines der spannendsten Dinge, die ich in der Biographie von Murat Vural gelesen habe, war, wie er selber in der Schule irgendwann einmal den Wunsch geäußert hat, aufs Gymnasium zu gehen, und er wurde vom Lehrer ausgelacht. Bei mir war das nicht der Lehrer, bei mir war es gleich die ganze Klasse, die mich ausgelacht hat. Das war auch schon ein bisschen früher, in der vierten Klasse, als es um die Frage ging, auf welche weiterführende Schule ich gehen möchte. Der Lehrer stand vorne und fragte irgendwann zu Beginn der vierten Klasse einmal, auf welche Schule man ab der fünften Klasse denn gehen möchte. Er fragte erst:  „Hauptschule?“ Ich hab mich nicht gemeldet, weil ich dachte: „Nö, ich will ja gar nicht auf die Hauptschule!“ Als er nach der Realschule fragte, habe ich mich auch nicht gemeldet, weil ich da eigentlich auch nicht hin wollte. Dann kam die Frage nach dem Gymnasium, und da habe ich dann die Hand gehoben. Da ich ganz hinten saß, dauerte es eine Weile, bis der Lehrer mich wahrgenommen hat. Als er irgendwann meinen Arm gesehen hat, wies er die ganze Klasse darauf hin, dass ich mich mit dem Wunsch gemeldet hätte, aufs Gymnasium zu gehen. Ich war damals neben José, dem portugiesischen Jungen, der einzige, der nicht typisch Deutsch war. Das führte dazu, dass die gesamte Klasse sich umdrehte und, als sie meine Hand sah, in einen Lachkrampf ausbrach. Angeleitet vom Lehrer, wie gesagt.

Daran fühlte ich mich ein bisschen erinnert, als Murat erzählt hat, wie er den Wunsch äußerte, aufs Gymnasium zu gehen. Ich hab damals nicht so richtig verstanden, was daran so lustig war, dass jemand mit dem Namen Cem Özdemir – oder eben Murat Vural – diesen Wunsch äußerte.
Vielleicht erklärt es sich, wenn man die heutigen Zahlen betrachtet. Ich habe mir eine herausgesucht: Der Anteil der Schulabgänger mit Abitur betrug 2005 in diesem wunderschönen Land Nordrhein-Westfalen insgesamt 26 Prozent. Der Anteil der ausländischen Schüler, die Abitur machen, liegt dagegen bei 10 Prozent. Und solange nicht Deutsche wie Nicht-Deutsche, Arme wie Reiche, Mittelschichts- wie Unterschichtsangehörige, die gleichen Chancen haben, das Abitur zu machen, solange ist diese Gesellschaft keine soziale Gesellschaft. Solange ist diese Gesellschaft keine solidarische Gesellschaft. Solange ist diese Gesellschaft keine Gesellschaft, in der Menschen  unterschiedlicher Herkunft die gleichen Chancen ha-ben. Und solange werden wir Murat Vural und andere brauchen, die das auszugleichen ver-suchen, was die Politik nicht schafft, was die Politik versäumt hat und noch versäumt.

Bei den Versäumnissen denke ich sicherlich auch an die Eltern. Es reicht nicht aus, nur mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Politik, sei es Landes- oder Bundespolitik zu zeigen, sondern auch die Eltern müssen ihren Teil dazu beitragen, Bildung zu fördern. Über die Gründe, warum gerade der Anteil türkischstämmiger Kinder an weiterführenden Schulen so gering ist, mag man sich streiten. Wenn ich mit deutschen Lehrern rede, dann sagen sie, dass die Eltern nicht zum Elternabend kämen. Sie engagierten sich zu wenig, sie förderten ihre Kinder nicht genug. Wenn ich mit türkischen Elternvereinen rede, dann sagen sie mir, es läge an den Lehrern, an den Schulen und an der Politik. „Unsere Kinder werden benachteiligt.“ Selbst bei gleicher Begabung bekämen sie schlechtere Zensuren oder würden nicht fürs Gymnasium empfohlen. Und die Politik sei viel zu spät dran mit Dingen wie Ganztagsschulen, frühkindlicher Erziehung und Ähnlichem.
Meine Position ist: Ein bisschen haben alle recht. Nur in einem Punkt sollten wir uns verständigen: Die Kinder sollten in keinem Fall die Zeche dafür zahlen müssen, dass Elternhäu-ser, Schulen und Politik so viele Dinge in der Vergangenheit versäumt haben, die dazu ge-führt haben, dass die Situation heute so ist, wie sie ist. Wenn wir wollen, dass die Situation sich künftig ändert, dann müssen alle Kinder, die in unserer Gesellschaft aufwachsen - das gilt auch ausdrücklich für deutsche Arbeiterkinder - ihrer Begabung entsprechend gefördert werden.

Wenn man dann liest, dass Kinder aus Migrantenfamilien und Kinder aus deutschen Arbeiterfamilien bei gleicher Lese- und Mathematikkompetenz eine viermal geringere Chance haben, aufs Gymnasium zu kommen wie vergleichbare deutsche Mittelschichtskinder, dann spricht das eine sehr klare Sprache und zeigt uns, wie groß die Aufgaben sind, die wir noch vor uns haben. Ein Preis kann sicherlich Integrationspolitik nicht ersetzen. Ein Preis ändert nicht unsere Schulen.
Ein Preis ändert nicht alle Elternhäuser. Ein Preis wird auch nicht ändern, dass ab morgen alle Kinder aufs Gymnasium gehen. Aber ein Preis hat eine ganz wichtige Signalwirkung: Er ist eine Ermutigung!

Eine Ermutigung an Murat Vural, aber eben auch an die anderen Murat Vurals, die wir nicht kennen, von denen wir noch nichts gehört haben; die sich auch nicht zufrieden geben mit den Zuständen, wie sie sind, und die eben nicht sagen: „So war es immer, so ist es, und so wird es bleiben“, sondern die sagen: „Ich als Einzelner kann etwas bewegen, ich kann andere mitnehmen, und ich kann dafür sorgen, dass sich – wie bei einem Schneeballeffekt – immer mehr beteiligen, so dass wir irgendwann einmal in einer Gesellschaft leben, in der es keine Rolle mehr spielt, ob meine Eltern aus Anatolien oder aus Kasachstan kommen, oder ob die Vorfahren meiner Eltern schon gegen die Römer gekämpft haben.“
Eine solche Gesellschaft müssen wir gemeinsam schaffen, eine Gesellschaft, in der wir alle uns als Inländer verstehen, egal ob wir Murat oder Cem heißen, ob wir Hans, Gustav, Sabine oder wie auch immer heißen. Eine solche Gesellschaft ist dann auch eine Gesellschaft, in der die Bundeskanzlerin tatsächlich die Bundeskanzlerin von allen ist, und in der wir nicht mehr nach Ankara, nach Riad, nach Teheran, nach Belgrad oder wohin auch immer schauen werden, um von dort die Lösungen für unsere Gesellschaft zu erwarten.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Murat Vural herzlich zu gratulieren. Er hat den Preis für seine Arbeit wahrlich verdient. Wenn wir dann in einigen Jahren noch einmal das Jubiläum feiern werden und Murat dann wahrscheinlich schon zwanzig oder dreißig Preise erhalten hat und gar nicht mehr weiß, wo er mit den ganzen Preisen hin soll, dann hoffe ich, dass seine Initiative viele Nachahmer in der ganzen Republik gefunden haben wird.
Herzlichen Glückwunsch an Murat Vural, herzlichen Glückwunsch aber auch an alle, die ihm geholfen haben!