Was droht, wenn autoritäre Parteien bei Wahlen immer mehr Erfolg haben? Im sogenannten “Thüringen-Projekt” entwickelte eine Forschungsgruppe düstere Zukunftsszenarien - mit Folgen auch für die Geschlechterpolitik.
Gleichstellung und Vielfalt unter Druck
Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke kritisierte schon vor Jahren “steuerfinanzierte Gesellschaftsexperimente, die der Abschaffung der natürlichen Geschlechterordnung dienen” - seine Polemik richtete sich gegen das gleichstellungspolitische Konzept des Gender Mainstreaming. In parlamentarischen Anfragen auf Landes- und Bundesebene zeigte sich die AfD besorgt über die “Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft durch Misandrie”; ein “radikaler Feminismus” treibe die “Entfremdung zwischen den Geschlechtern” voran. Immer wieder plädierten Rechtspopulist*innen auch für die traditionelle familiäre Arbeitsteilung und für die Rücknahme emanzipatorischer Justizreformen etwa im Scheidungsrecht.
Es blieb weitgehend bei radikaler Rhetorik, politisch umsetzen konnte die Partei ihre Positionen bisher kaum. Abgesehen von einzelnen Ausnahmen im lokalen und regionalen Umfeld ist es den Rechtspopulist*innen noch nicht gelungen, relevante politische Machtpositionen zu erobern. Ergebnisse um die 30 Prozent bei Wahlen in Ostdeutschland zeigen aber künftige Gefahren auf, fürchtet Maximilian Steinbeis. Der Jurist und Publizist betreibt schon seit 2009 den Verfassungsblog, auf dem wissenschaftliche Fragen im Grenzbereich von Politik und Recht diskutiert werden.
Um in den Parlamenten obstruktiv tätig zu sein, bedarf es keiner rechnerischen Mehrheit. Auch wenn sie sich in der Opposition befinden, können die Feinde der Demokratie die freiheitliche Rechtsordnung für ihre Zwecke missbrauchen, lautet eine zentrale These von Steinbeis. Im sogenannten Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs, das mit über 1700 Spenden per Crowdfunding finanziert wurde, hat er gemeinsam mit einem vielköpfigen Forschungsteam mögliche negative Szenarien durchgespielt. In seinem aktuellen Buch “Die verwundbare Demokratie” beschreibt er die gravierenden Folgen für Schulen und Universitäten, für Medien und Kunst, für Polizei und Justiz - und auch für die Geschlechterpolitik.
Democratic backsliding
Je mehr Stimmen rechte Politik mobilisieren kann, desto mehr Beteiligungs- und Verfahrensrechte stehen ihr in Gemeinderäten, Landtagen oder auf Bundesebene als juristische “Einfallstore” zur Verfügung. Das betrifft nicht nur das vergleichsweise unbedeutende, aber der größten Fraktion in der Regel zustehende Amt der Sitzungsleitung im Parlament. Schon mit einem Drittel der Sitze erreicht eine Partei die Sperrminorität bei Entscheidungen über Änderungen in der Verfassung. Sobald sie auch wesentlichen Einfluss auf Gesetzgebung und Gesetzesvollzug bekommt, also in eine Regierung eintritt oder diese gar alleine stellt, potenzieren sich diese Möglichkeiten.
Rechte Machthabende in Ungarn und Polen, in den USA und Israel haben auf abschreckende Weise vorgemacht, wie über die politisch motivierte Besetzung wichtiger Posten vor allem in der Verfassungsgerichtsbarkeit das Gleichgewicht zwischen Legislative und Judikative ausgehöhlt werden kann. Eine Abwahl der Regierenden soll auf diese Weise erschwert oder gar unmöglich gemacht werden. Die Politikwissenschaft bezeichnet solche Prozesse als “democratic backsliding”, als eine rückwärts gerichtete Entwicklung in ursprünglich liberal verfassten Demokratien.
Sexualkunde gestrichen
Das Thüringen-Projekt spielt die Zukunftsperspektive einer Erfurter Landesregierung unter Führung der AfD für verschiedene Politikfelder durch. Im sogenannten “Bildungsszenario” zum Beispiel erlässt das zuständige Ministerium nach Paragraf 40a Absatz 2 des Schulgesetzes neue Rechtsverordnungen, die die Aufgabe des eigentlich zuständigen “Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien” beschränken. Die Regierung kann die Unterrichtsinhalte nunmehr allein gestalten - und setzt gravierende, unter Gender-Gesichtspunkten rückschrittliche Änderungen durch. Die auch queere Lebensformen berücksichtigende Sexualaufklärung wird ersatzlos aus dem Lehrplan gestrichen. Die Grundlage dafür, den bislang gültigen “Bildungsplan bis 18 Jahre", hat die AfD schon im Wahlkampf als “politisch motiviertes Programm” denunziert, das “an den Schulen nichts verloren habe”.
Im Thüringen-Szenario wollen engagierte Eltern gegen die neuen Lehrpläne vorgehen, sie scheitern aber vor den Gerichten. Denn das Vorgehen der Regierung ist legal, rein rechtlich steht es im Einklang mit den Erziehungszielen, die in Artikel 22 der Landesverfassung festgelegt sind. Ein durchaus typischer Fall sei das, so das Forschungsteam: Die angewandten Strategien bewegten sich meist im Rahmen der geltenden Gesetze.
Das Verhältnis autoritärer Politiker*innen zum Rechtsstaat sei jedoch instrumentell, argumentiert Maximilian Steinbeis. Dem Juristen zufolge nutzen sie ihn vorrangig, um ihn von innen heraus zu untergraben. Sie arbeiten in den Institutionen, und dennoch gegen diese Institutionen. Nicht zwangsläufig müsse das gleich zum Zerfall des demokratischen Systems führen. Die Methoden des Rechtspopulismus seien formal korrekt und juristisch wenig angreifbar, doch erst in ihrer Kombination entfalteten sie ihr vollständiges autoritäres Potenzial. Denn sie missachten “die ungeschriebenen Regeln”, die als “Leitplanken” notwendig für das Funktionieren der Demokratie seien - so formulieren es die Wissenschaftler*innen im Thüringen-Projekt.
Die Taktik erkennen
Als “constitutional hardball”, einem aus der Sportart Baseball entlehnten Begriff, charakterisierte bereits 2004 der US-amerikanische Jurist Mark Tushnet eine politische Taktik, die die Verfassung zerstören wolle, ohne sie dezidiert brechen zu müssen. Maximilian Steinbeis hält, wie schon sein Buchtitel verrät, die staatlichen Institutionen und ihre Regularien für verwundbar. Unter dem Vorwand, die wahren Interessen des Volkes zu vertreten, werde das Recht mit populistischer Rhetorik untergraben. Politik und Zivilgesellschaft müssten dieser Bedrohung ins Auge sehen und “alle Kräfte mobilisieren, um unsere Freiheit zu verteidigen”.
Denn die Institutionen der Verfassung könnten sich nicht selbst schützen. Dafür sei vielmehr die Gesellschaft als Ganze verantwortlich, sie benötige eine entsprechend “robuste politische Kultur”. Man könne der autoritären Strategie “nicht entkommen, aber ihr entgegentreten”. Es gehe darum, die angewandten Taktiken zu erkennen, sie zu benennen und sich auf ihre nächsten Schritte vorzubereiten, um nicht “in jede Falle hineinzutappen”. Protest und Widerstand seien unabdingbar, bevor “aus Möglichkeiten Wirklichkeiten geworden sind und es für Gegenwehr zu spät ist”. Der Autor bringt seine Botschaft auf die Kurzformel “Resilienz durch Antizipation”.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.gwi-boell.de