Edith Droste
Würdevolle Begleitung am Lebensende: für alle oder nur für Privilegierte?
Hospizarbeit ist inzwischen in aller Munde. Dennoch wird nicht überall gleich gut gestorben. An den gesellschaftlichen Rändern schlechter als in der Mitte der Gesellschaft, in Institutionen weniger umsorgt als in stationären Hospizen. Einige Bevölkerungsgruppen bleiben bisher ganz oder weitgehend außen vor. Ethnische Herkunft und sozialer Status, prekäre Lebenslagen und komplexe Krankheitsbilder – unüberwindbare Hürden für eine Gerechtigkeit im Sterben?
- Wer erhält keine umfassende hospizliche und palliativmedizinische Versorgung?
- Warum ist das so?
- Und was muss getan werden, um Ungleichheiten abzubauen?
Die Hospizbewegung bildete sich in Deutschland in den 80er Jahren vielerorts als Bürgerbewegung - für ein würdevolles Sterben und den offenen Umgang mit einem aus Gesellschaft und Öffentlichkeit verdrängten Thema. Damit reagierte sie auf eine Situation, die der französische Historiker PHILIPP ARIES als „Ausbürgerung des Todes“ beschrieben hatte. Gestorben wurde bis dahin oft in Abstellräumen und Badezimmern von Krankenhäusern. Die Versorgung der Verstorbenen war an Experten delegiert worden.
Trauernde Menschen wurden ausgegrenzt. Das war nicht immer so. Über Jahrhunderte hinweg war der Tod selbstverständlicher Bestandteil des Lebens.
Ich selbst gehöre zur Generation derjenigen, die davon noch profitieren durfte. Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit einem Verstorbenen Anfang der sechziger Jahre. Ich muss damals so um die 5 Jahre alt gewesen sein. Es war der 2. Weihnachtstag und meine Mutter nahm mich ganz selbstverständlich mit ins Trauerhaus in der Nachbarschaft unseres 120-Seelen-Dorfes im tiefen Sauerland. Der hochbetagte Onkel Anton war in der guten Stube aufgebahrt. Ich handelte mir Tadel ein, weil ich, während wir am offenen Sarg Abschied nahmen, anfing Erdnüsse zu essen, die ich mir vorher in die Manteltasche gestopft hatte. In den nächsten Jahren folgten weitere Besuche am Totenbett. Wir Kinder rieben unsere Warzen an den Toten und segneten sie mit Weihwasser. Bis nach dem Bau der Leichenhalle die Gestorbenen aus den Häusern verschwanden.
Als mein Opa nach einem Schlaganfall im Sterben lag, gaben mir die Eltern wiederum Gelegenheit, meine kindlichen Vorstellungen von Sterben und Tod durch direkte Erfahrungen anzureichern: ich durfte am Sterbebett sitzen, mit all den dazu gehörigen kindlichen Gefühlen und Reaktionen. Wir hatten einen kleinen Bauernhof und wenn ein Tier gestorben war, hieß es etwas derb: „Es ist verreckt“. Ich wandte nun dieses Verb auf Opa an und fragte meine Mutter: „Wenn Opa verreckt ist, erbe ich dann sein Gesangbuch?“ Er selbst hat es glücklicherweise nicht mehr gehört.
Ich bin bis heute dankbar für diese prägenden Erfahrungen, die einige von Ihnen vermutlich in ähnlicher Form gesammelt haben. Wie gut, dass es die Auffassung, man müsse Kinder vom Sterben und vom Verstorbenen fernhalten, damals – zumindest in unserem Dorf – noch nicht gab.
In den letzten 30 Jahren haben sich Hospiz- und Palliativangebote – zwei Seiten einer Medaille - in beindruckender Weise weiterentwickelt und ausdifferenziert. Die Zivilgesellschaft und ihre Pioniere haben damals einfach losgelegt statt zu warten, dass der Staat etwas unternimmt, um Sterben in vertrauter und geborgener Umgebung zu ermöglichen. Die Anzahl der ehrenamtlich Engagierten hat ständig zugenommen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Hier die Zahlen der aktuellsten Erhebung vom April 2016 ii. Danach verfügen wir in Deutschland über
- 235 stationäre Erwachsenenhospize einschließlich 14 Hospize für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – selbständige Einrichtungen, in denen Menschen ihre letzten Lebenstage und -wochen bis zum Tod verbringen; für Kinder ist der Aufenthalt ab dem Zeitpunkt der Diagnose möglich.
- 304 Palliativstationen und -einheiten - eigenständige, in Krankenhäuser integrierte Einrichtungen zur Versorgung schwerstkranker Menschen, die einer Krankenhausbehandlung bedürfen. Ziele der Behandlung ist Verbesserung, Stabilisierung und – soweit möglich – anschließende Entlassung. Einige Krankenhäuser verfügen auch über Palliativdienste, darüber liegen mir keine Zahlen vor.
- 1262 Ambulante Hospizdienste: ihre Hauptaufgabe ist die ehrenamtliche Begleitung Sterbender im häuslichen Umfeld, wobei die Zusammenarbeit mit Einrichtungen zunehmend ausgebaut wird.
- Patienten mit komplexen Symptomen und/ oder aufwändiger Betreuung haben einen Rechtsanspruch auf eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Sie gilt ausdrücklich auch für Bewohner in der stationären Altenpflege und in Behinderteneinrichtungen und wird vom Hausarzt verordnet. Deutschlandweit arbeiten 237 so genannte SAPV-Teams, die rund um die Uhr erreichbar sind, um Patienten intensiv zu betreuen.
Unterschiedliche Berufsgruppen – Apotheker und Ärzte, Pädagogen und Pflegekräfte, Seelsorger und Psychologen – sind aufgefordert, zum Wohl der Betroffenen zusammen zu arbeiten. An- und Zugehörige sind in die Angebote einbezogen, sollen ebenso Unterstützung und psychosoziale Begleitung erhalten. Die Kosten übernehmen größtenteils die Krankenkassen. Die Angebote sind also nicht nur etwas für Besserverdienende.
Ein erstes Fazit: Im Bereich stationärer Hospize sind wir schon recht gut aufgestellt, obwohl in manchen Regionen noch Hospize fehlen. Im Palliativbereich und bei den ambulanten Hospizdiensten ist eine gleichmäßige flächendeckende Versorgung noch nicht erreicht
- Wie weit ist die Anfahrt vom Wohnort zu einer Einrichtung?
- Wie lang sind die Wartezeiten?
- Wo gibt es weiße Flecken auf der Landkarte?
- Steht genügend qualifiziertes Personal zur Verfügung?
Eine vernünftige Bedarfsplanung muss solche Aspekte ebenso berücksichtigen wie die Frage, wo wir generell hin wollen: zu mehr Hospizen oder zu mehr Hospizkultur in den Einrichtungen und in der Regelversorgung.
Die Versöhnung mit einem geliebten Menschen, ein letztes Wiedersehen, die Geburt des Enkelkindes noch zu erleben, ein Schluck vom Lieblingswein, eine Zigarette oder ein Kuscheltier, Fenster auf oder zu: die Liste der letzten Wünsche und kleinen Wohlfühlfaktoren angesichts der nun deutlich verrinnenden Lebenszeit ließe sich fortsetzen. Hospize und Palliativstationen verfeinern seit vielen Jahren die Kunst der mitfühlenden Zuwendung und Begleitung ebenso wie die der palliativen, also medizinisch-pflegerischen Versorgung.
Wenn Menschen erleben, dass aufbrechende Wunden gut gepflegt werden und Durstgefühl, Übelkeit und Erbrechen sich mindern lassen. Wenn sie erfahren, dass Angst und Traurigkeit einen guten Ort haben und sie mit ihren letzten Fragen nicht allein sind, gewinnen sie an Lebensqualität. Von großer Bedeutung ist die Zusage, durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen ohne unerträgliche Schmerzen oder Atemnot zu sterben. Die Orientierung an körperlichen, sozialen, psychischen und spirituellen Bedürfnissen ist das Fundament für Würde und Selbstbestimmung im Sterben.
Hospiz- und Palliativangebote sollen nicht nur die Lebensqualität des Patienten schützen, sondern ebenfalls die der An- und Zugehörigen. Auch sie brauchen Unterstützung, Entlastung und Raum für Abschied und Trauer, da sich ihr Leben durch die Erkrankung komplett ändert. In Hospizen erhalten sei diese einschließlich der Unterstützung bei der Trauerarbeit bis zum Tod. Dort werden sie ebenfalls in die Pflege und Begleitung mit einbezogen und gegebenenfalls angeleitet.
Was hindert Menschen daran, sich diejenige Unterstützung zu holen, die sie brauchen, wird im Veranstaltungsflyer zum heutigen Abend gefragt.
„Sagen sie dem Nachbarn nicht, dass Sie vom Hospiz kommen“.
„Versprechen sie mir, mit meinem Sohn nicht über den tödlichen Ausgang seiner Krankheit zu reden“.
„Wenn ich meine Mutter zu ihnen ins Hospiz bringe, weiß sie doch, dass es aufs Ende zugeht“.
Sätze wie diese zeigen, wie mühsam der Weg vom Tabu hin zum offenen und informierten Umgang, vom Schweigen zum Darüber reden ist. Sterben ist eben noch keine anerkannte, zum Alltag gehörige Lebensform geworden. Manche trauen sich nicht in ein Gespräch, in die Öffentlichkeit, fast so, als müsse man sich der Krankheit und des Sterbens schämen.
Entscheidend ist für mich, dass wir uns als Vermittler verstehen. Informationsveranstaltungen, Tage der offenen Tür und Veranstaltungen wie diese heute Abend bauen Berührungsängste ab und schaffen ein öffentliches Bewusstsein. Das Projekt
„Hospiz macht Schule“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie bereits Grundschüler in Projektwochen von Ehrenamtlichen an die Themen Sterben, Trauer und Trost herangeführt werden.
In den zitierten persönlichen Aussagen geht es aber nicht nur um die gesellschaftliche Todesverdrängung, sondern auch um die ganz persönliche Ebene – die der eigenen Ängste und Sorgen. Wo Menschen hautnah mit dem Sterben konfrontiert sind, müssen innere Einsamkeit und Verzweiflung durchlitten werden.
In meinen Berufsjahren in der Kinderhospizarbeit habe ich erlebt, wie angstbesetzt der Schritt ins Kinderhospiz für viele Familien sein kann. Er ist ja Teil der Annäherung und schmerzhaften Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass das geliebte Kind in jungen Jahren sterben wird. Ist die erste Hürde genommen, beschreiben Eltern und Geschwister, wie entlastend es ist, sich mit Menschen in vergleichbarer Lebenslage auszutauschen, Kraft zu schöpfen, den Sorgen und der Trauer ebenso Raum zu geben wie schönen Erlebnissen und tiefen menschlichen Begegnungen. Und dennoch geht um nichts Geringeres als um die Anerkennung der Sterblichkeit, die nun ins eigene Leben hineingebrochen ist und Menschen aus ihrer Normalität herauskatapultiert hat.
Für die Kinder und Jugendlichen mit lebensverkürzender Erkrankung ist es wichtig, einen Ort zu haben, an dem sie über Erkrankung, Tod und Sterben sprechen oder schweigen können – so wie es für sie gerade dran ist. Oft geht es dabei um Vermächtnisse an die Zurückbleibenden, die Gestaltung der eigenen Beerdigung oder letzte Wünsche. So wie bei Jonas, einem Jugendlichen, der vor seinem Tod zum jungen Mann werden, Sex haben wollte und damit uns alle vor eine ganz unerwartete Herausforderung stellte.
Werden Sterbende und Angehörige aller Kulturen und gesellschaftlichen Schichten durch Angebote der Hospiz- und Palliativversorgung gleichermaßen erreicht? Treffen sie deren Bedarfe und Bedürfnisse?
Der Tod ist der große Gleichmacher. Wir nehmen nichts mit ins Grab. Ein gutes Sterben ist, ebenso wie ein gutes Leben, abhängig von der finanziellen Lage, von Bildung und sozialer Einbindung.
Die CHARTA ZUR BETREUUNG SCHWERSTKRANKER UND STERBENDER MENSCHEN IN
DEUTSCHLANDiii ist Ergebnis eines Prozesses, der 2008 begann. Unter der Trägerschaft der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, der Bundesärztekammer und des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes haben zahlreiche Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen Handlungsempfehlungen erarbeitet, wie für jeden Menschen ein Recht auf Sterben unter würdigen Bedingungen erreicht werden kann.
Inzwischen gibt es in Deutschland vielfältige Bestrebungen, die Hospiz- und Palliativversorgung zu einem Bestandteil des Gesundheitssystems weiter auszubauen, sie in der Regelversorgung ebenso wie in den vielfältigen Wohn- und Lebensbereichen der Menschen zu verankern.
Damit kommen wir zum zweiten Bereich: der sogenannten allgemeinen Palliativversorgung, wie sie in Arztpraxen und durch Pflegedienste, in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern, durch weitere Berufsgruppen und die schon erwähnten ambulanten Hospizdienste geleistet wird. Die meisten Sterbenden werden im Rahmen dieser allgemeinen Versorgung betreut.
An erster Stelle sind hier die Altenpflegeheime zu nennen. Sie sind zum Sterbeort Nr. 1 in Deutschland geworden. Hochbetagte, meist schwerkranke Menschen verbringen hier ihre letzten Monate, Wochen und Tage. Dabei hat die Verweildauer bis zum Tod ständig abgenommen. Ein Drittel der Bewohner sterben drei Monate, zwei Drittel der Bewohner 12 Monate nach ihrem Einzug. Zugenommen haben die Bedürfnisse nach palliativer Versorgung. Allerdings mit dem Unterschied, dass wir hier weder den Personalschlüssel noch die strukturellen Rahmenbedingungen eines stationären Hospizes vorfinden.
Das Ziel einer flächendeckenden Hospiz- und Palliativversorgung im Altenheim ist längst noch nicht erreicht, obwohl doch gerade hier die „Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten“ in einer existenziellen, unabweisbaren Dringlichkeit zutage tritt.
Im Alter von 85 plus, dem so genannten 4. Lebensalter, ist das Vorliegen von 5-10 schwerwiegenden Diagnosen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wenn alte Menschen zunehmend gebrechlich werden, ihnen unheilbare Krankheiten Schmerzen verursachen, dann erfüllen sie die Kriterien der Weltgesundheitsorganisation für Palliativbedürftigkeit.
Bedürfnisse verschieben sich von der aktivierenden hin zur hin zur palliativen Pflege und Umsorgung. Zur Lebensbegleitung treten Elemente der Sterbebegleitung hinzu. Quälende, oft unterdiagnostizierte Schmerzen und andere Beschwerden können zur Belastung schon lange vor dem Lebensende werden. Menschen mit Demenz tragen besonders schwer an der Last ihrer Symptome. Sie stehen auf schwankendem Boden und haben kaum Bewältigungsstrategien. Sie erleben einen ständig voranschreitenden kognitiven Verfall ihrer Denk-und Merkfähigkeit mit dem ganzen oder teilweisen Verlust der Fähigkeit, sich über Sprache mitzuteilen. Sie sind in besonderer Weise wehrlos und sorgebedürftig.
Die menschliche und medizinische und Betreuung alter Menschen ist sehr vielschichtig: das Erkennen und Lindern von Schmerzen, das Verstehen wo Sprache nicht mehr weiterhilft, ein angemessenes Verhältnis von fürsorglichem Tun und liebevollem Unterlassen, so wie es der Sterbende sich wünscht oder in Verfügungen niedergelegt hat: dazu braucht es idealerweise Pflegende und Ärzte, Ehrenamtliche und Therapeuten, die als Team zusammenarbeiten und dabei ihre persönlichen und fachlichen Fähigkeiten und Kompetenzen einsetzen.
Eine Kollegin aus Wuppertal berichtete kürzlich von einer Frau im Pflegeheim, die im Sterben lag. Da sie kaum noch Angehörige hatte, bat sie darum, jemand möge bei ihr sitzen. Sie habe Angst und es helfe ihr, wenn jemand da sei. In ihrem Dämmerzustand, aus dem sie immer wieder aufwachte, ging ihr erster Blick auf den Stuhl neben ihrem Bett.
Diese Einrichtung schaffte es, 72 Stunden lang, bis zum Tod, an der Seite der Sterbenden zu sein. Die Kollegin schilderte weiter: „Alle Wohnbereiche, die Verwaltung, der Soziale Dienst, die Hauswirtschaft, die Leitung – alle waren informiert: Frau Meyer liegt im Sterben. Und alle haben sich an der Sterbebegleitung beteiligt, am Bett gesessen oder andere Aufgaben mit übernommen. Sogar in der Nacht hat die Sitzwache funktioniert“.
Damit solche (Leuchtturmbeispiele) zunehmend Schule machen, damit ein Kulturwandel in Altenpflegeheimen gelingt, damit die hier lebenden Menschen sich als wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft fühlen, muss mehr Geld ins System: „Pflegeeinrichtungen sind im Hospiz- und Palliativgesetz so gut wie vergessen worden“, kritisiert der DHPV-Vorsitzende Winfried Hardinghaus. Gleichzeitig, so die Wuppertaler Kollegin, müssen wir unsere Sensibilität und ethische Empfindsamkeit schulen.
Wenn es um Palliativversorgung und hospizliche Begleitung für Menschen mit geistiger Behinderung geht, sprechen wir inzwischen von Menschen jeden Alters: im häuslichen Umfeld, in Wohnheimen, in Kinder- und Erwachsenenhospizen.
Für diejenigen die in Wohnstätten der Behindertenhilfe leben, sind diese zum Zuhause geworden. Sie müssen sich darauf verlassen können, nicht noch im Sterben in eine fremde Umgebung zu kommen. Sie benötigen die Sicherheit, dass vertraute und qualifizierte Mitarbeiter auch in der Sterbephase an ihrer Seite sind, ihnen Wertschätzung entgegenbringen und Zugang zu palliativen Angeboten verschaffen.
Damit die Begleiteten Regie für ihr eigenes Sterben übernehmen können, ist ein Perspektivwechsel der Begleiter nötig - weg von den Defiziten hin zu den Ressourcen.
Eine fragende Haltung ist insbesondere dann gefragt, wenn Menschen ihre Bedürfnisse indirekt, mehrdeutig, schwer verständlich äußern.
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Welche Bedürfnisse signalisiert mir das Gegenüber mit Worten, Gestik, Mimik, mit der Körpersprache?
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Welche Wünsche gibt es für medizinische Behandlungen am Lebensende oder den Verzicht darauf?
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Welche unerledigten Dinge möchte sie, möchte er noch regeln?
„Jedes Mal, wenn ich weine, kommt ein Stück Trauer raus“.
„Jeden Abend bete ich für meine tote Mama im Himmel und mache ein Teelicht an“.
Zwei Beiträge von Bewohnern mit geistiger Behinderung, die sich in eine meiner Fortbildungen zum Thema „Abschied – Teil eines gelingenden Lebens“ auf den Weg gemacht hatten. Lange wurden Menschen mit geistiger Behinderung in Watte gepackt, weil man glaubte, sie würden die Wahrheit nicht verkraften und die Endgültigkeit des Todes nicht verstehen. Diese akademische Lehrmeinung ist durch die Praxis widerlegt.
Not-wendend ist die Verankerung einer Trauer- und Erinnerungskultur. Gelegenheit für die Verabschiedung vom Verstorbenen und Grabbeigaben, in der Gruppe gestaltete Erinnerungstische mit Fotos und Gegenständen, die an den Bewohner erinnern, gemeinsame Rituale wie das Aufsteigen lassen von Luftballons, die Pflege des Gedenkens anlässlich von Todestagen - wo Einrichtungen solche Möglichkeiten nutzen, findet gelebte Trauerarbeit statt.
Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund nutzen Angebote der Versorgung am Lebensende bisher kaum. Gehen wir von 10 % der Sterbenden aus, die eine spezialisierte Hospiz- und Palliativversorgung benötigen, dann sind das in den nächsten 15 Jahren mindestens 225.000 Migranten.
Mitarbeitende sind oft irritiert. Das kann schon beginnen bei der Vorstellung darüber, wie Sterben und Tod zu gestalten sei: still im Kreis der engsten Angehörigen oder kollektiv im Kreis aller Verwandten.
Sprachschwierigkeiten oder uns fremd erscheinende Verhaltensweisen lösen Unsicherheit aus. Sie stellen unsere Alltagsroutine in Frage und münden oft in den Wunsch nach
„Rezepten“, die Verhaltensweisen und Kulturen detailliert beschreiben. Oft neigen wir anschließend nur noch mehr dazu, Menschen mit Migrationsgeschichte durch die „kulturelle Brille“ zu betrachten und sie in „Schubladen“ zu stecken, die ihnen nicht gerecht werden.
Der Begriff transkulturelle Kompetenz (trans – lat. über) meint Kompetenz nicht zwischen den Kulturen, sondern über kulturelle Hürden hinweg. Er lenkt den Blick auf das Gemeinsame von Menschen unterschiedlicher Kulturen. Er würdigt beides: das Verbindende und die Differenz. Transkulturelle Kompetenz ist im Grunde genommen nichts anderes als den Menschen in seinen persönlichen Bedürfnissen anzuerkennen. Immer mehr Einrichtungen öffnen sich in diesem Sinne auch dem Thema des heutigen Abends:
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Begrüßungstee aus dem Samowar in einem stationären Kinderhospiz oder die Errichtung eines für rituelle Waschungen geeigneten Raumes in einem Erwachsenenhospiz – Angebote für die Angehörigen die Vernetzung mit Glaubens- und Kulturgemeinschaften durch vermittelnde Stellen und Migrationsorganisationen oder die Ausbildung und Anstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die selbst eine Migrationsgeschichte haben. - Dies sind nur einige, Mut machende Beispiele, die mir in meiner Arbeit in den letzten Jahren begegnet sind - Teile einer wertschätzenden Abschiedskultur.
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Ein Leben in Armut, körperliche Verwahrlosung, ein schlechter Gesundheitszustand, schwere Erkrankungen und schlecht ausgeheilte Wunden: ein Teufelskreis für die von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen.
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Aber wie geht eine würdevolle Hospizarbeit auf der Straße und in Wohnunterkünften?
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Was tun, wenn keine Beziehung zu einem Hausarzt vorhanden ist und damit die Voraussetzung für einen Platz im Hospiz oder auf der Palliativstation wegfällt oder wenn Menschen ohne festen Wohnsitz sagen: ich halte es in geschlossenen Räumen nicht aus, das ist für mich wie Knast.
Die bisher vereinzelt existierenden Kontakte zwischen Wohnungslosenhilfe, Hospiz- und Palliativdiensten zeigen, dass solche Kooperationen gewinnbringend gestaltet werden können: zum Beispiel durch die Bereitstellung von Unterkünften, die verhindern, dass die Menschen im Freien sterben oder gegen ihren Willen ins Krankenhaus eingeliefert werden oder durch Angebote in stationären oder ambulant betreuten Wohnformen.
Um Menschen in Justiz- und Maßregelvollzugseinrichtungen ein Sterben in Würde zu ermöglichen, bedarf es auch für sie, die lange von Politik und Wissenschaft unbeachtet blieben, des Zugangs zu einer bedarfsgerechten Hospiz- und Palliativversorgung - innerhalb oder außerhalb der Vollzugseinrichtung.
Der Seelsorger PETRUS CEELEN war kürzlich Gast auf einer meiner Hospiztagungen in der Evangelischen Akademie Villigst. Er unterstützt und begleitet seit vielen Jahren Menschen, die damit leben müssen, im bürgerlichen Leben gescheitert zu sein und die sich in einem Teufelskreis aus Scham, Angst, fehlendem Gesundheitsbewusstsein befinden. Der folgenden Satz aus seinem Vortrag stimmt nachdenklich:
„Menschen am Rand geben uns einen anderen Blickwinkel. Sie halten uns vor Augen, dass auch unser Leben hätte anders verlaufen können. Ist das nur unser Verdienst? Vielleicht haben wir mehr Glück gehabt als andere.“
Sind zum Schluss alle gleich? Hospiz und Palliativ für alle die es brauchen? Versuch eines Ausblicks
Regionale Hospiz- und Palliativnetzwerke verfolgen das Ziel, eine gute Versorgung am Lebensende für alle Menschen in einer Region sicherzustellen und das von meisten gewünschte Sterben in der häuslichen Umgebung zu ermöglichen. Die Einbeziehung regionaler Gegebenheiten, wie hier in Soest und im HSK die gewachsenen ländlichen Strukturen, ist dabei von allergrößter Bedeutung. Die eingangs genannten Berufsgruppen, Sanitätshäuser, Notfall- und Rettungsdienste, Bestattungsinstitute, Institutionen, Verbände, und politische Entscheidungsträger sind aufgerufen, demokratisch zusammenzuarbeiten.
Die stetige Weiterentwicklung von Hospiz- und Palliativkompetenz und Abschiedskultur in Einrichtungen ist kein Selbstläufer. Wie können Verpuffungseffekte vermieden, wie kann Nachhaltigkeit gesichert werden?
Die Verankerung einer enttabuisierten Abschieds-, Palliativ- und Trauerkultur für Bewohner und nahestehende Menschen gehört in das Leitbild einer jeden Organisation. Menschen in der letzten Lebensphase müssen sich darauf verlassen können: Hier wird ein würdevoller, fachlich kompetenter Umgang mit Tod und Sterben gepflegt.
Runde Tische, Fortbildungen und der regelmäßige Austausch im Team tragen zur Verstetigung und Weiterentwicklung bei. Dabei erweist es sich als sinnvoll, möglichst viele Mitarbeiter, von der Leitung über die Pflege bis zur Küche und Verwaltung für die Bedarfe und Bedürfnisse der ihnen anvertrauten Menschen zu schulen und zu sensibilisieren, beispielsweise für Gespräche zwischen „zwischen Tür und Angel“.
Mitarbeitende brauchen Räume, um ihr alltägliches Tun zu unterbrechen, um belastende Situationen mitzuteilen und zu reflektieren. Hilfreich können Rituale nach dem Tod eines Gastes sein – zum Innehalten, Gedenken und zum Austausch über eigene Erlebnisse und Gefühle. Wenn für diese Form der Selbstsorge Möglichkeiten vorgesehen werden, wird der Gewinn für das eigene Leben, von dem Mitarbeitende nach anfänglichen Berührungsängsten berichten, persönlich erlebbar.
Es braucht also eine mehrfache Aufmerksamkeit: für Mitarbeitende, Bewohner und Angehörige und für die Organisation.
Top Down und Buttom Up- Ansätze, also Leitungsverantwortung und Basisorientierung, Verantwortung von oben nach unten und unten nach oben, müssen zusammen kommen. Politik auf allen Ebenen, die Kostenträger und die Leistungserbringer müssen gemeinsam darauf hinwirken, die allgemeine und die spezialisierte Versorgung weiter zu entwickeln. Die Leuchttürme von heute müssen zur Regelversorgung von morgen werden. Durch das im Dezember 2015 verabschiedete Hospiz- und Palliativgesetz ist die Sterbebegleitung ausdrücklicher Bestandteil der sozialen Pflegeversicherung geworden.
Arztpraxen und Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen, Forschungsinstitute und Selbsthilfegruppen und Einrichtungen, die bisher nicht regelhaft beteiligt sind – alle sind aufgefordert, das Tabuthema Tod und Sterben zum Teil ihrer Arbeit zu machen und Konzepte zu erarbeiten.
„Jeder Mensch hat das Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen und auf eine Begleitung, die ihn in seiner Einzigartigkeit anerkennt“, betont die CHARTA. Unabhängig von zugrundeliegender Erkrankung, Lebensalter, Herkunft, persönlicher Lebenssituation, Lebensort, sexueller Orientierung und Identität. iv
Die Gefahr der Verschärfung gesellschaftlicher Ungleichheiten – alternde Gesellschaft, Engpass bei Pflegekräften, Zunahme von Menschen in prekären Lebenssituationen – muss bei uns allen wach gehalten werden. Die Hospizbewegung muss weiterhin unbequem bleiben, sich beharrlich dafür einsetzen, dass ein Sterben in Würde nicht von der sozialen Position des Sterbenden abhängt.
Wir, die „Noch nicht Betroffenen“, haben die Aufgabe, schwerst kranken sterbenden Menschen zu dienen, ohne zu Dienern zu werden. Dafür braucht es Mitmenschlichkeit und Nähe genauso wie kompetente Medizin und Pflege. Die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen auf Augenhöhe bildet den Kern solcher sorgenden Gemeinschaften.
Wir, die Begleiterinnen und Begleiter, sind aufgefordert, unser Denken und Handeln immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen. Trauen wir uns zu einem radikalen Perspektivwechsel, der die Frage wach hält: Was willst du, das ich dir tun soll? Denn: die Sterbenden und Trauernden sind unsere Lehrmeister.
So ist die Überzeugung der Ärztin und Krankenschwester CICELY SAUNDERS, die in England die Hospizarbeit begründete, aktueller denn je. Mit ihren Worten komme ich zum Ende meiner Ausführungen:
„Sie sind wichtig, weil sie eben Sie sind. Sie sind bis zum letzten Atemzug ihres Lebens wichtig, und wir werden alles tun, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern auch bis zuletzt leben können“.
Die Autorin:
Edith Droste
Dipl. Pol., Referentin für Hospiz und Palliative Care Trauerbegleiterin
Nebenamtliche Studienleiterin der Ev. Akademie Villigst Email: edithdroste@gmx.de
Erläuterungen:
i Vortrag Grüner Salon Soest am 22.09. 2017
ii Basis: Datenerhebung des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes (DHPV) e.V. vom April 2016
iii Charta zur Betreuung schwerstkranker sterbender Menschen in Deutschland. Handlungsempfehlungen im Rahmen einer Nationalen Strategie, Stand September 2016
iv Charta zur Betreuung schwerstkranker sterbender Menschen in Deutschland, a.a.O., S. 46