Die Atmosphäre ist ein bisschen wie in einem überfüllten Hörsaal. Mehr als 100 Leute kommen am Sonntagvormittag zum Grünen Salon ins Historische Museum. Zusätzliche Klappstühle werden aufgestellt, die Fensterbank wird belegt, aber am Ende reichen die Sitzplätze nicht für alle Anwesenden. Einige müssen trotzdem stehen.
Dabei scheint das Thema auf den ersten Blick nicht gerade ein Publikumsmagnet: „Europa in der Zerreißprobe?“ lautet die Überschrift der Diskussionsrunde. Analysiert werden soll die deutsche und europäische Außenpolitik im aktuellen Ukraine-Russland-Konflikt. „Ich weiß, das ist anspruchsvoll“ gesteht Helga Boldt vom Trägerkreis des Bielefelder Grünen Salons, doch die Debatte sei dringend notwendig. Zu einseitig sei in der Öffentlichkeit bislang über die Ursachen und mögliche Lösungen des Konflikts berichtet worden. Bei den eingeladenen Gästen ist eine hitzige Kontroverse vorprogrammiert. Ruprecht Polenz, ehemaliger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, verteidigt die Sanktionen der EU als einzig richtige Maßnahme: „Die ökonomischen und politischen Kosten müssen für Russland erhöht werden“ sagt der CDU-Politiker aus Münster, der als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde die internationalen Auswirkungen des Ukraine-Konflikts intensiv verfolgt. Seiner Meinung nach habe der Westen nichts falsch gemacht, Russland sei ganz klar der Aggressor. Polenz zitiert die Prinzipien der KSZE-Schlussakte von 1975: darunter die Unverletzlichkeit der Grenzen, territoriale Integrität der Staaten und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Dagegen habe Putin mit der Annexion der Krim sowie der militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine klar verstoßen.
Politikwissenschaftler Jürgen Wagner hält dagegen. Das Vorstandsmitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung sieht eine deutliche Schieflage in der Diskussion um die Schuldigen: „Ich bin nicht der Meinung, das Putin ein pazifistischer Friedensengel ist“, sagt er. Doch seiner Ansicht nach trage der Westen eine deutliche Mitschuld an der Eskalation des Konflikts. Die NATO-Osterweiterung und auch die „expansive“ Nachbarschaftspolitik der EU hätten dazu beigetragen. Es gehe auch um handfeste wirtschafts- und geopolitische Interessen: die Ukraine sei ein „Filetstück“, das sowohl der Westen als auch Russland gerne in die eigene Einflusssphäre „einverleiben“ würden. Als Lösungsansatz sieht Wagner unter anderem die Idee einer neutralen Ukraine nach dem Vorbild der Schweiz.
In der letzten halben Stunde kommt unter der Leitung des Bielefelder Soziologen Jürgen Feldhoff auch das Publikum ins Spiel. Ein junger Mann, gebürtig aus dem Donbass, meldete sich leidenschaftlich zu Wort: „Die Leute in der Ost-Ukraine wollen in der Ukraine bleiben“ beteuert er. „Wir wollen nicht zu Russland. Aber wir wollen ein föderales System“. Was auch immer die richtige Strategie ist – endgültig geklärt wurde das auch in Bielefeld nicht. Aber es gab viele Denkanstöße - und zum Schluss sogar noch Literaturhinweise vom Professor: „Lesen Sie Konrad Schuller. Der ist zwar von der FAZ – aber warum eigentlich nicht???“ sagt Jürgen Feldhoff. So ist das eben im Grünen Salon: Tabus gibt es keine.
Einen Bericht in der Neuen Westfälischen finden Sie hier.